McEwan Ian
als hätte es keinerlei Unterbrechung gegeben. »Wie findest du unsere Baguettes und Ficelles?« »Sehr lecker.«
»Deshalb bist du auch jeden Tag gekommen, nicht?« »Ja.« Er schwieg und dachte darüber nach. Dann fragte er vorsichtig, als schneide er ein heikles Thema an: »Und unsere Croissants?« »Die besten in Millau.«
Er lächelte. Wenn er sprach, machte er hinten in der
Kehle einen seltsam knarzigen Laut, dem sie aber beide keinerlei Beachtung schenkten.
»Ein Spezialrezept von meinem Vater. Entscheidend ist die Qualität der Butter.«
Er schaute sie verzückt an und legte seine freie Hand über ihre. »Weißt du, daß meine Mutter dich sehr gern hat?« fragte er. »Wirklich?«
»Sie redet ständig von dir. Sie findet, wir sollten diesen Sommer heiraten.«
Sie hielt seinem Blick stand. Jetzt wußte sie, warum sie hergeschickt worden war. Er konnte nur mit Mühe schlukken, Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn und sammelten sich am Verband und auf seiner Oberlippe. Sie wischte sie fort und wollte ihm gerade etwas Wasser geben, als er fragte: »Liebst du mich?« Sie zögerte. »Ja.« Eine andere Antwort war nicht möglich. Und im Augenblick liebte sie ihn tatsächlich. Er war ein hübscher Junge, weit fort von daheim, und er würde bald sterben.
Sie gab ihm etwas Wasser. Als sie ihm erneut das Gesicht abwischte, fragte er: »Bist du jemals auf dem Causse de Larzac gewesen?«
»Nein, nie.«
Er bot ihr nicht an, sie dorthin mitzunehmen. Statt dessen drehte er den Kopf auf die andere Seite und murmelte unverständliche Satzfetzen, hielt ihre Hand aber fest umklammert, als spürte er die ganze Zeit ihre Anwesenheit.
Kaum war er wieder bei Verstand, wandte er sich erneut zu ihr um. »Du mußt doch noch nicht gehen, oder?«
»Natürlich nicht. Ich bleib bei dir.«
»Tallis…«
Immer noch lächelnd schloß er halb die Augen. Plötzlich schoß er auf, als wäre ein Stromstoß durch seine Glieder gefahren. Er starrte sie verwundert an, die Lippen geöffnet. Dann kippte er vornüber und schien sich auf sie werfen zu wollen. Sie sprang vom Stuhl auf und griff zu, damit er nicht zu Boden fiel. Immer noch hielt er ihre Hand, den freien Arm hatte er ihr um den Hals gelegt, die Stirn an ihre Schulter gepreßt. Seine Wange lag an ihrer Wange. Sie hatte Angst, das sterile Tuch könne erneut verrutschen, und fürchtete, das Gewicht des Jungen nicht halten und den Anblick seiner Wunde bestimmt nicht noch einmal ertragen zu können. Das knarzige Geräusch tief aus seiner Kehle drang an ihr Ohr. Taumelnd schob sie ihn zurück und bettete seinen Kopf wieder auf das Kissen. »Ich heiße Briony«, sagte sie so leise, daß nur er sie hören konnte. Die Augen waren vor Erstaunen weit geöffnet, die wächserne Haut schimmerte im elektrischen Licht. Sie beugte sich über ihn und legte die Lippen an sein Ohr. Hinter ihr war jemand; eine Hand lag auf ihrer Schulter.
»Nicht Tallis. Nenn mich Briony«, flüsterte sie, als die Hand nach ihr griff und ihre Finger aus der Hand des Jungen löste. »Sie können jetzt aufstehen, Schwester Tallis.« Stationsschwester Drummond faßte sie am Ellbogen und half ihr auf die Füße. Die Wangen der Schwester glühten; eine präzise, quer über den Wangenknochen laufende Linie trennte die rosigen Flecken vom Weiß des übrigen Gesichtes.
Auf der anderen Bettseite zog eine Krankenpflegerin das Laken über Luc Cornets Gesicht.
Mit geschürzten Lippen zupfte die Stationsschwester Brionys Kragen zurecht. »Sieht doch gleich viel besser aus. So, und jetzt gehen Sie und waschen sich das Blut aus dem Gesicht. Wir wollen doch die Patienten nicht beunruhigen.«
Sie tat, was ihr gesagt worden war, ging in den Waschraum, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und nahm Minuten später ihre Arbeit auf der Station wieder auf.
Um halb fünf Uhr morgens wurden die Lernschwestern zum Schlafen auf ihre Zimmer geschickt. Um elf Uhr sollten sie sich wieder zum Dienst melden. Briony ging mit Fiona. Die beiden Mädchen sagten kein Wort, doch als sie sich unterhakten, war es, als würden sie nach den Erfahrungen eines ganzen Lebens ihren Spaziergang über die Westminster Bridge wiederaufnehmen. Was auf der Station geschehen war, hätten sie nicht beschreiben können, auch nicht, wie die Stunden sie verändert hatten. Sie brauchten ihre letzte Kraft, um sich auf den Beinen halten und den übrigen Mädchen über die leeren Flure folgen zu können.
Briony hatte gute Nacht gesagt und betrat ihr winziges Zimmer, als sie
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