McEwan Ian
zuckersüßen Ablehnungsbescheid. Er hatte beim Dienst in ihrer Tasche gesteckt, und auf der zweiten Seite breitete sich jetzt ein krabbenähnlicher Karbolfleck aus. Mittlerweile war sie davon überzeugt, daß der Brief unbeabsichtigt eine wichtige Anklage gegen sie erhob. War sie auf verheerende Weise zwischen die beiden getreten? Ja, das war sie. Und hatte sie daraufhin nicht ihr Tun mit einer fadenscheinigen, spitzfindigen Erzählung verschleiern und zugleich ihre Eitelkeit befriedigen wollen, als sie dieses Gebräu an eine Zeitschrift sandte? Dutzende Seiten über Licht, Stein und Wasser, eine in drei Perspektiven aufgeteilte, in der Schwebe gehaltene Erzählung, in der so gut wie nichts passierte – all das konnte ihre Feigheit nicht verdecken. Oder hatte sie wirklich geglaubt, sich hinter einigen zusammengeklaubten Ideen von moderner Literatur verbergen und ihre Schuld in einem Bewußtseinsstrom – in drei Bewußtseinsströmen! – ertränken zu können? Die Ausflüchte ihres kleinen Romans waren genau dieselben wie die in ihrem Leben. Alles, was sie mied, das fehlte auch in ihrem Roman – und war doch notwendig. Was sollte sie jetzt tun? Ihr fehlte nicht das Rückgrat einer Geschichte. Ihr selbst fehlte es an Rückgrat. Sie ließ die Grünanlage hinter sich und kam an einer nicht besonders großen Fabrik vorbei, deren pochender Maschinenlärm den Bürgersteig vibrieren ließ. Nichts verriet, was hinter diesen hohen, verdreckten Fenstern hergestellt wurde oder warum gelbschwarzer Rauch aus dem einsamen, schlanken Aluminiumrohr quoll. Gegenüber lag ein Pub, der sich die gesamte Kurve entlangzog. Die Tür stand weit offen, als gäbe sie den Blick auf eine Theaterbühne frei. Drinnen hing noch ein bläulicher Dunst vom Vorabend in der Luft, und ein Junge mit hübschem, nachdenklichem Gesicht leerte Aschenbecher in einen Eimer aus. Zwei Männer mit Lederschürzen rollten Bierfässer über die Rampe eines Tafelwagens. Noch nie hatte Briony so viele Pferde auf den Straßen gesehen. Offenbar waren sämtliche Laster vom Militär requiriert worden. Jemand drückte von innen die Kellerfalltür auf, die krachend auf das Pflaster schlug und eine Staubwolke aufwirbelte. Ein Mann mit einer Tonsur, die Beine noch unter dem Straßenniveau, verharrte einen Augenblick und schaute ihr nach. Er kam ihr wie eine riesige Schachfigur vor. Die beiden Brauereiarbeiter starrten sie jetzt ebenfalls an, und einer pfiff ihr hinterher.
»Alles in Ordnung, Darling?«
Ihr machte so etwas nichts aus, aber sie wußte nie, wie sie darauf antworten sollte. Ja, danke, alles bestens? Sie lächelte und war froh über ihre Tracht. Bestimmt dachten alle Leute immerzu an die Invasion, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als einfach weiterzumachen. Selbst wenn die Deutschen kamen, würden die Menschen Tennis spielen, tratschen oder Bier trinken. Vielleicht pfiffen sie dann allerdings den Frauen nicht mehr hinterher. Die Straße machte einen Bogen und wurde enger, der unablässige Verkehr dröhnte lauter, die warmen Abgase bliesen ihr ins Gesicht. Viktorianische Reihenhäuser aus leuchtendrotem Ziegelstein drängten sich dicht an den Bürgersteig. Eine Frau, die eine Schürze mit Paisley-Muster trug, fegte mit grimmiger Entschlossenheit vor einem Haus, aus dessen offener Tür der Geruch von gebratenem Frühstücksspeck drang. Sie trat beiseite, um Briony vorbeizulassen, da der Weg hier ziemlich schmal wurde, kehrte ihr aber abrupt den Rücken zu, als Briony einen guten Morgen wünschte. Gleich darauf kamen ihr eine Frau und vier henkelohrige Jungen mit Koffern und Rucksäcken entgegen. Die Kinder tobten, schrien, bolzten einen alten Schuh vor sich her und überhörten den kraftlosen Befehl ihrer Mutter, als Briony sich an die Hauswand pressen mußte, um sie durchzulassen.
»Jetzt paßt doch auf! Laßt mal die Schwester vorbei!« Die Frau warf ihr im Vorübergehen ein schiefes, entschuldigendes Lächeln zu. Ihr fehlten beide Vorderzähne, und sie roch durchdringend nach billigem Parfüm. Zwischen den Fingern hielt sie eine unangezündete Zigarette.
»Sie sind so aufgeregt, weil sie aufs Land fahren. Sind noch nie da gewesen, können Sie sich das vorstellen?«
»Viel Glück«, wünschte ihr Briony. »Hoffentlich kommen Sie zu einer netten Familie.«
Die Frau, deren ebenfalls abstehende Ohren teilweise von ihrem Pagenschnitt verdeckt wurden, stieß ein fröhliches Lachen aus: »Wenn die wüßten, was ihnen mit dieser Rasselbande blüht!«
Ein
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