McEwan Ian
inzwischen abgerissenes Kartenviertel verriet ihr, daß sie in Stockwell war, wo mehrere ziemlich schäbige Straßen zusammenliefen. An der Straße, die nach Süden führte, stand ein Bunker, davor eine Handvoll gelangweilter Männer der Bürgerwehr, die zusammen nur ein einziges Gewehr besaßen. Ein älterer Mann mit Filzhut, Overall, Armband und den Hängebakken einer Bulldogge löste sich aus der Gruppe und wollte ihren Ausweis sehen. Mit herablassender Miene winkte er sie weiter. Sie wußte, daß sie gut daran tat, ihn nicht nach dem Weg zu fragen. Außerdem meinte sie zu wissen, daß sie der Clapham Road etwa drei Kilometer weit folgen mußte. In dieser Gegend waren nicht mehr so viele Menschen unterwegs, und der Verkehr hatte nachgelassen, außerdem war die Straße breiter als jene, die sie hergeführt hatte. Nur das Rattern einer abfahrenden Straßenbahn war zu hören. Vor einer Reihe edwardianischer, von der Straße zurückgesetzter Häuser gönnte sie sich auf einer niedrigen Mauer eine halbe Minute Rast und zog sich die Schuhe aus, um eine Blase an ihrer Ferse zu untersuchen. Ein Konvoi Dreitonner fuhr vorüber, unterwegs nach Süden, raus aus der Stadt. Automatisch warf sie einen Blick auf die Ladeflächen und rechnete fast damit, dort Verwundete zu sehen, doch hatten die Laster nur Holzkisten geladen.
Vierzig Minuten später erreichte sie die Station Clapham Common. Die gedrungene Kirche aus wie zerknittert wirkendem Stein war verschlossen, also zog sie den Brief ihres Vaters aus der Tasche und las ihn noch einmal durch. Eine Frau in einem Schuhgeschäft zeigte ihr den Weg zum offenen Parkland, dem Common. Selbst als Briony die Straße überquerte und über den Rasen ging, konnte sie die andere Kirche erst nicht entdecken, da sie vom Laub einiger Bäume fast verborgen und nicht gerade das war, was Briony erwartet hatte. Ihr hatte der Schauplatz eines Verbrechens vorgeschwebt, eine schaurige Kathedrale, deren pompöses Gewölbe vom schamlosen scharlachroten und indigofarbenen Licht der düsteren Leidensszene eines Bleiglasfensters überschwemmt wurde. Doch was da im Näherkommen im kühlen Baumschatten auftauchte, war ein Backsteingebäude, elegant dimensioniert wie ein griechischer Tempel, mit schwarzen Dachziegeln, Fenstern aus schlichtem Glas und einem flachen, von weißen Säulen getragenen Vorbau unter einem Glockenturm von harmonischer Proportion. Vor dem Eingang parkte ein blankpolierter, schwarzer Rolls-Royce. Die Fahrertür stand offen, doch vom Chauffeur war keine Spur zu sehen. Als sie am Wagen vorbeiging, konnte sie die Wärme des Motors spüren, intim wie Körperwärme, und hörte das leise Klicken von Metall, das sich zusammenzog. Sie ging die Stufen hinauf und stieß die schwere, mit Ziernägeln beschlagene Tür auf.
Die feuchten Mauern, der Duft von Wachs und Holz: Es roch wie überall in den Kirchen. Noch während sie sich umdrehte, um diskret die Tür zu schließen, fiel ihr auf, daß die Kirche fast leer war. Die Worte des Vikars wurden vorn eigenen Echo überlagert. Sie stand an der Tür, teilweise vom Taufbecken verborgen, und wartete darauf, daß sich Augen und Ohren ans Kircheninnere gewöhnten. Dann näherte sie sich der letzten Bank und glitt bis an ihr Ende, konnte den Altar aber immer noch sehen. Dies war nicht ihre erste Familienhochzeit, doch war sie zu jung, als daß sie jene prächtige Feier in der Liverpool Cathedral miterlebt hätte, auf der Onkel Cecil mit Tante Hermione vermählt worden war, deren Gestalt sie am ausgefallenen Hut in der ersten Reihe erkennen konnte. Daneben entdeckte sie Pierrot und Jackson, beide um zwölf, fünfzehn Zentimeter gewachsen, schlaksiger, eingekeilt zwischen ihren sich fremd gewordenen Eltern. Auf der anderen Gangseite sah sie die drei Mitglieder der Familie Marshall. Dies war die gesamte Gemeinde. Eine private Feier. Keine Klatschjournalisten. Brionys Anwesenheit war nicht vorgesehen. Sie war mit der Zeremonie so weit vertraut, daß sie wußte: Den entscheidenden Augenblick hatte sie nicht versäumt.
»Zum zweiten ward es verfügt als ein Heil gegen die Sünde und um der Unzucht Einhalt zu gebieten, auf daß jene, denen die Gabe der Enthaltsamkeit nicht eignet, einander freien und fürderhin makellose Glieder des Leibes Christi sein können.« Das Paar, umrahmt von der erhöhten, weißgewandeten Gestalt des Vikars, stand mit dem Gesicht zum Altar. Lola war ganz traditionell in Weiß gekleidet, und, soweit Briony das von hinten beurteilen
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