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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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oder geschwärzt worden waren. Briony hegte die vage Absicht, einige Kilometer dem Flußlauf zu folgen und schließlich nach links abzubiegen, sich dann also Richtung Süden zu halten. Die meisten Stadtpläne waren eingezogen worden, aber sie hatte das Glück gehabt, einen alten, zerknitterten Busfahrplan von 1926 auf treiben zu können. Er war an den Faltkanten eingerissen, genau dort, wo ihr Weg sie langführte. Wenn sie ihn aufschlug, riskierte sie, daß er in seine Einzelteile zerfiel. Außerdem fragte sie sich besorgt, was sie für einen Eindruck machen würde. In der Zeitung hatten einige Artikel vor deutschen Fallschirmjägern gewarnt, die sich als Nonnen und Krankenschwestern verkleidet in der Stadt verteilten und die Bevölkerung infiltrierten. Man erkannte sie leicht daran, daß sie gelegentlich eine Karte zu Rate zogen, auf Nachfragen in allzu perfektem Englisch antworteten und keinerlei Kinderreime kannten. Kaum hatte sich dieser Gedanke in ihrem Kopf festgesetzt, konnte sie nicht anders, als ständig daran zu denken, wie verdächtig sie aussehen mußte. Sie hatte geglaubt, ihre Tracht würde sie schützen, wenn sie sich in unbekannten Gegenden bewegte. Statt dessen sah sie darin wie eine Spionin aus.
    Während der morgendliche Verkehr in entgegengesetzter Richtung an ihr vorüberfloß, ging sie sämtliche Kinderreime durch, an die sie sich erinnern konnte. Es gab nur wenige, die sie von Anfang bis Ende kannte. Vor ihr war ein Milchmann vom Karren gestiegen, um an seinem Pferd den Packgurt nachzuziehen. Als sie hinter ihm stehenblieb und sich höflich räusperte, brummelte er dem Tier irgendwas zu, und für einen kurzen Moment mußte sie an den alten Hardman und seine Kutsche denken. Jeder, der heute siebzig Jahre zählte, war achtzehnhundertachtundachtzig so alt gewesen, wie sie es heute war. Immer noch das Zeitalter der Pferde, zumindest auf den Straßen, und die alten Männer hingen an den Tieren.
    Sie fragte nach dem Weg. Der Milchmann antwortete freundlich und beschrieb ihr lang und undeutlich, wie sie gehen sollte. Er war ein großer Kerl mit einem weißen, vom Tabak verfärbten Bart und näselte beim Reden, offenbar ein Problem mit den Polypen, weshalb sie seine Worte kaum auseinanderhalten konnte. Er wies auf eine Straße, die nach links abzweigte und unter einer Eisenbahnbrücke hindurchführte. Sie fand zwar, daß es noch viel zu früh war, den Fluß hinter sich zu lassen, doch meinte sie, im Weitergehen seinen Blick auf sich zu spüren, und fand es unhöflich, seine Anweisungen zu mißachten. Vielleicht war der Abzweig nach links eine Abkürzung.
    Es überraschte sie, wie unbeholfen und befangen sie sich fühlte, obwohl sie in der letzten Zeit doch so viel gelernt und gesehen hatte. Sie kam sich irgendwie unfähig vor, ganz verzagt, weil sie auf sich allein gestellt war und keiner Gruppe mehr angehörte. Monatelang hatte sie ein Leben geführt, in dem jede Stunde reglementiert gewesen war. Sie kannte ihren bescheidenen Platz auf der Station. Und je tüchtiger sie wurde, um so besser gelang es ihr, Anordnungen zu befolgen, das Reglement einzuhalten und nicht weiter über sich nachzudenken. Nur für sich selbst hatte sie schon lange nichts mehr getan, bestimmt nicht mehr seit jener Woche in Primrose Hill, als sie ihre Novelle getippt hatte, und wie töricht ihr doch heute diese ganze Aufregung schien.
Als sie die Brücke unterquerte, fuhr ein Zug darüber hinweg. Das donnernde, rhythmische Rattern drang ihr durch Mark und Bein. Stahl, der über Stahl rumpelte, im Dämmerlicht da oben die großen verschraubten Platten, dort eine mysteriöse, in die Ziegelmauer eingelassene Tür und mächtige, gußeiserne, von rostigen Eisenklammern gehaltene Rohre, in denen Gott weiß was floß – solch brutale Erfindungen waren das Werk von Übermenschen. Sie selbst wischte Böden auf und legte Verbände an. War sie wirklich stark genug für diesen Ausflug?
    Sie kam unter der Brücke hervor, lief durch einen staubigen Keil Morgensonne, und der Zug verschwand in der Ferne mit einem harmlos klickenden, vorstädtischen Geräusch. Was sie brauchte, ermahnte Briony sich aufs neue, war Rückgrat. Sie kam an einer Grünanlage mit einem Tennisplatz vorbei, auf dem zwei Männer in weißen Flanellhosen in aller Ruhe einen Ball hinund herschlugen und sich für ein Spiel aufwärmten. Zwei Mädchen in khakifarbenen Shorts saßen in der Nähe auf einer Bank und lasen einen Brief. Sie dachte an ihren Brief, diesen

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