McEwan Ian
konnte, tief verschleiert. Das Haar hatte sie zu einem einzigen, kindlichen Zopf geflochten, der sich unter einem Krönchen aus Tüll und Organdy ihren Rücken hinabschlängelte. Marshall in seinem Cutaway stand kerzengerade vor dem Priester, die Umrisse seiner Schulterpolster hoben sich wie scharf gestochen vor dem Meßgewand ab.
»Zum dritten ward die Ehe zu gegenseitiger Gemeinschaft, Hilfe und Trost bestimmt, auf daß der Mensch nicht allein sei…« Wie Dreck auf ihrer Haut, wie einen Ausschlag spürte sie die Erinnerungen, die schmerzenden Details: Lola, die mit Tränen in den Augen in ihr Zimmer platzte, die aufgescheuerten, blau angelaufenen Handgelenke, die Kratzer auf ihrer Schulter und in Marshalls Gesicht; Lolas Schweigen in der Dunkelheit am See, als sie zuließ, daß ihre ernste, lächerliche, ach so prüde Kusine, die das wahre Leben von den Geschichten in ihrem Kopf nicht zu unterscheiden wußte, den Angreifer freisprach. Die arme, eitle, schwierige Lola mit ihrem perlenbesetzten Samthalsband und dem Rosenwasserduft, die sich sehnlichst wünschte, die letzten Fesseln der Kindheit abzuwerfen, die jede Demütigung vermied, indem sie sich verliebte oder sich dies doch zumindest einredete, und die ihr Glück kaum fassen konnte, als Briony darauf bestand, die Anklage und das Reden zu übernehmen. Welch ein Glück für Lola – kaum mehr als ein Kind, verführt und geschändet – ihren Vergewaltiger heiraten zu können.
»…Wer aber unter den hier Anwesenden einen berechtigten Grund vorbringen kann, warum diese beiden nicht vor dem Gesetz vereint werden sollen, der möge nun sprechen oder auf immer schweigen.«
Geschah es wirklich? Stand sie wirklich auf, mit wackligen Knien, leerem, sich verkrampfendem Magen und pochendem Herzen, glitt durch die Bank, um mitten in den Gang zu treten und mit herausfordernder, kein bißchen zittriger Stimme ihre Motive darzulegen, ihre gerechten Gründe, und mit Mantel und Kopfputz wie eine Braut Christi zum Altar zu schreiten, hinüber zum mit offenem Mund dastehenden Vikar, der in all den Jahren nie zuvor unterbrochen worden war, den versammelten Gemeindemitgliedern, die den Hals nach ihr verrenkten, dem halb zu ihr umgewandten, blaßgesichtigen Paar entgegen? Sie hatte nichts dergleichen vorgehabt, aber die Frage aus dem Gebetbuch, die sie ganz vergessen hatte, war ihr zu sehr wie eine Herausforderung erschienen. Wie aber lauteten ihre Einwände? Jetzt bot sich die Gelegenheit, in aller Öffentlichkeit ihre innere Not zu beschreiben und sich von dem Unrecht zu reinigen, das sie begangen hatte. Vor dem Altar dieser vernünftigsten aller Kirchen.
Doch die blauen Flecken waren verschwunden, die Kratzer längst verheilt, und all ihre damaligen Aussagen hatten das Gegenteil besagt. Auch schien die Braut kein Opfer zu sein, sie besaß sogar die Zustimmung ihrer Eltern. Wahrscheinlich sogar noch mehr als das: ein Schokoladenbaron, der Erfinder des Amo-Riegels. Tante Hermione dürfte sich die Hände reiben. Wollte sie etwa behaupten, daß Paul Marshall, Lola Quincey und sie, Briony Tallis, sich verschworen hatten, um mit Stillschweigen und Verleumdungen einen Unschuldigen ins Gefängnis zu schicken? Die Worte, die ihn verurteilt hatten, waren doch ihre eigenen Worte gewesen, in ihrem Namen laut im Gericht vorgetragen. Die Strafe war bereits abgesessen, die Schuld bezahlt, das Urteil gefällt.
Mit klopfendem Herzen, schweißnassen Händen und demütig gesenktem Kopf blieb sie auf ihrem Platz.
»Und so begehre ich denn von euch beiden und mache es euch zur heiligen Pflicht, da ihr am furchtbaren Tage des Jüngsten Gerichts, wenn die Geheimnisse aller Herzen enthüllt werden, auch darüber werdet Rechenschaft ablegen müssen, daß ihr jetzt in aller Wahrheit bekennt, ob einem von euch ein Hindernis bekannt ist, das euch verbietet, gesetzmäßig in den Stand der Ehe zu treten.«
Selbst bei vorsichtiger Schätzung war es noch lang bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes, und ebenso lange würde nun die Wahrheit, die allein Marshall und seine junge Frau aus erster Hand kannten, im Mausoleum ihrer Ehe eingemauert bleiben. Dort würde sie geborgen im Dunkeln liegen, selbst dann noch, wenn alle, die es etwas anging, bereits gestorben waren. Jedes Wort dieser Zeremonie war ein weiterer Ziegelstein in der Mauer des Schweigens.
»Wer gibt diese Frau in die Hände dieses Mannes?« Wie ein Vogel huschte Onkel Cecil eilfertig nach vorn, sichtlich darauf bedacht, sich rasch seiner Pflicht zu
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