McEwan Ian
los, hinter dem tadellosen Verhalten ihrer älteren Kusine verberge sich eine niederträchtige Absicht. Vielleicht vertraute Lola ja auch darauf, daß die Zwillinge in ihrer Unschuld das Stück schon zum Scheitern bringen würden und daß sie nur zu beobachten und in aller Ruhe abzuwarten brauchte.
Dieser unbewiesene Verdacht, Jacksons Waschküchenarrest, Pierrots klägliche Schauspielerei und die erdrückende Hitze schlugen Briony aufs Gemüt. Außerdem irritierte es sie, daß Danny Hardman in der Tür stand und ihnen so lange zusah, bis sie ihn fortschicken mußte. Lolas spröde Unnahbarkeit schien unüberwindbar, und Pierrot war einfach kein normal klingender Satz zu entlocken, weshalb sie regelrecht erleichtert war, als sie sich unvermutet allein im Kinderzimmer wiederfand. Lola hatte behauptet, ihre Frisur noch einmal überdenken zu müssen, und ihr Bruder war über den Flur zur Toilette oder sonstwohin verschwunden. Briony saß auf dem Boden, lehnte mit dem Rücken an einem der großen eingebauten Spielzeugschränke und fächelte sich mit den Blättern ihres Theaterstücks Luft zu. Die Stille im Haus war vollkommen – kein Laut von unten, keine Schritte, kein Gluckern der Abwasserleitung; die vom hochgeschobenen Fenster gefangene Fliege gab ihren Kampf verloren, und draußen perlte Vogelsang auf und verebbte gleich wieder in der Hitze. Sie streckte die Beine aus und konzentrierte sich ganz auf die Falten ihres weißen Musselinrocks und die vertrauten, liebgewonnenen Hautrunzeln an den Knien. Eigentlich hätte sie heute morgen etwas anderes anziehen müssen. Sie sollte sich mehr um ihr Äußeres kümmern, so wie Lola. Es wäre kindisch, das nicht zu tun. Aber lästig war es auch. Die Stille summte ihr in den Ohren, und ihr Blick war leicht verzerrt – die Hände im Schoß schienen unnatürlich groß und zugleich weit fort, als würde sie aus großer Ferne auf sie hinabsehen. Briony hob eine Hand, krümmte die Finger und wunderte sich, wie schon so oft, daß dieses Ding, diese Greifmaschine, diese fleischige Spinne am Armende ihr gehörte und gänzlich ihrem Kommando unterstand. Oder hatte dieses Etwas womöglich doch ein Eigenleben? Sie beugte die Finger, streckte sie. Das Rätsel lag in dem Augenblick vor der Bewegung verborgen, in jenem entscheidenden Moment zwischen Starre und Veränderung, in dem ihre Absicht wirksam wurde. Wie eine Welle, die sich bricht. Bliebe sie auf dem Wellenkamm, dachte Briony, könnte sie vielleicht das Rätsel ihrer selbst lösen, könnte jenen Teil in sich erkennen, der sie in Wahrheit bestimmte. Sie führte ihren Zeigefinger dichter ans Gesicht und starrte ihn an, beschwor ihn, sich zu bewegen. Er blieb reglos, aber sie spielte auch nur, meinte es nicht ganz ernst, und ihren Finger zu einer Bewegung zu drängen, ihn etwa krümmen zu wollen, war nicht dasselbe, wie ihn wirklich zu bewegen. Als sie ihn dann tatsächlich krümmte, schien der eigentliche Vorgang im Finger zu beginnen und nicht in irgendeinem Teil ihres Hirns. Wann wußte der Finger, daß er sich bewegen sollte, wann wußte sie, daß sie ihn bewegen wollte? Sich selbst zu überlisten war unmöglich. Es gab nur ein Entweder-Oder und keinen Einschnitt, keine Nahtstelle, doch wußte sie, daß hinter dem glatten, ebenmäßigen Stoff das wahre Selbst lag – ihre Seele vielleicht? –, das beschloß, der Selbsttäuschung ein Ende zu machen und den entscheidenden Befehl zu geben.
Diese Gedanken fand sie so vertraut und tröstlich wie die genaue Entsprechung ihrer Beine, diesen vergleichbaren, doch konkurrierenden, symmetrischen und spiegelbildlichen Anblick. Stets folgte ein zweiter Gedanke dem ersten, ein Rätsel gebar das nächste: Waren alle Menschen so lebendig wie sie selbst? Nahm ihre Schwester sich zum Beispiel genauso wichtig, schätzte sie sich selbst so sehr, wie Briony sich schätzte? War es eine ebenso aufregende Angelegenheit, Cecilia zu sein, wie die, Briony zu sein? Besaß ihre Schwester auch ein wahres Selbst, das hinter der sich brechenden Welle verborgen blieb, und verbrachte sie ihre Zeit damit, über sich selbst nachzudenken, sich einen Finger vors Gesicht zu halten? Taten das alle Menschen? Auch ihr Vater, Betty, Hardman? Falls die Antwort ja lautete, dann war die Welt, die Welt der Menschen, unglaublich kompliziert: Zwei Milliarden Stimmen, und jeder einzelne fand seine Gedanken gleichermaßen wichtig, stellte gleich große Ansprüche ans Leben und hielt sich, genau wie alle anderen, für etwas
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