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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Besonderes, dabei war eigentlich niemand etwas Besonderes. Ertrinken mochte man in seiner eigenen Bedeutungslosigkeit. Sollte die Antwort aber nein lauten, dann war Briony von Maschinen umgeben, die rein äußerlich nett und intelligent wirkten, denen aber ihr helles, persönliches Inneres fehlte. Das wäre eine finstere, einsame Welt, zudem höchst unwahrscheinlich. Denn obwohl es ihrem Ordnungssinn widersprach, wußte sie doch mit überwältigender Gewißheit, daß alle Menschen Gedanken hegten, die den ihren ähnelten. Sie wußte es, auch wenn es ein gleichsam trockenes Wissen blieb, da sie kein rechtes Gefühl dafür hatte.
    Die Proben verletzten ihren Ordnungssinn. Ihre in sich geschlossene Welt, die sie mit klaren, vollkommenen Linien umrissen hatte, war vom Gekritzel fremder Gedanken, fremder Bedürfnisse verunstaltet worden; und die Zeit, die sich auf dem Papier so leicht in Akte und Szenen gliedern ließ, verrann sogar in diesem Augenblick. Vermutlich konnte sie erst nach dem Mittagessen wieder mit Jackson rechnen. Leon würde mit seinem Freund am frühen Abend eintreffen, vielleicht auch schon eher, und die Vorstellung war für sieben Uhr angesetzt. Dabei hatte immer noch keine richtige Probe stattgefunden; außerdem konnten die Zwillinge nicht spielen, konnten nicht mal ihren Text aufsagen, und Lola hatte die Rolle an sich gerissen, die Briony zustand. Nichts war, wie es sein sollte, und es war heiß, unglaublich heiß. Das Mädchen wand sich in seiner Not und stand auf. Die staubigen Bodenleisten hatten Hände und Rock beschmutzt. Gedankenverloren wischte Briony sich die Finger am weißen Musselin ab und trat ans Fenster. Am leichtesten hätte sie Leon beeindruckt, wenn sie ihm eine Geschichte geschrieben, sie ihm in die Hand gedrückt und ihm beim Lesen zugesehen hätte. Der Schriftzug des Titels, das bemalte Deckblatt, die gebundenen Seiten – allein in diesem Wort lag die ganze Faszination der übersichtlichen, limitierten und beherrschten Form, auf die sie mit der Entscheidung, ein Theaterstück zu schreiben, verzichtet hatte. Eine Geschichte war einfach und direkt: Sie ließ nichts zwischen sich und den Leser kommen – keine Mittelsmenschen mit persönlichen Zielen oder Unzulänglichkeiten, keinen Zeitdruck, dafür unbegrenzte Möglichkeiten. In einer Geschichte brauchte man sich bloß etwas zu wünschen, man mußte es nur niederschreiben, und schon gehörte einem die Welt; bei einem Theaterstück aber hatte man sich mit dem zufriedenzugeben, was verfügbar war: keine Pferde, keine Dorfstraßen, kein Strand. Kein Vorhang. Jetzt, da es zu spät war, fand sie es so verblüffend offensichtlich: Eine Geschichte war eine Form der Telepathie. Indem sie Zeichen auf die Seite setzte, konnte sie dem Leser die eigenen Gedanken und Gefühle übermitteln. Ein magischer Prozeß, gewiß, doch war er so geläufig, daß niemand mehr innehielt und darüber staunte. Einen Satz lesen und ihn verstehen war ein und dasselbe, genau wie das Krümmen eines Fingers – nichts lag dazwischen. Es gab keine zeitliche Kluft, in der die Zeichen erst enträtselt wurden. Man sah das Wort Schloß, und schon tauchte es in der Ferne auf, lag dort hinter weiten, hochsommerlichen Wäldern, der Himmel zartblau, und aus einer Schmiede stieg Rauch, ein Kopfsteinpflasterweg schlängelte sich durchs dunkle Grün…
    Sie stand am weitgeöffneten Fenster des Kinderzimmers und mußte das, was sich ihrem Blick bot, schon einen Moment lang gesehen haben, ehe sie es bewußt registrierte. Es war eine Landschaft, in die – zumindest in der Ferne – ein mittelalterliches Schloß gut gepaßt hätte. Einige Meilen hinter dem Land der Familie Tallis stiegen die Surrey Hills mit ihrer reglosen Schar stämmiger Traubeneichen an, deren Grün vom milchigen Dunst der Hitze gemildert wurde. Davor dann die offene Parklandschaft, die heute brütend wie eine Savanne dalag, wild und trocken, mit vereinzelten Bäumen, die scharfe, gedrungene Schatten warfen, und überall das lange Gras, dem bereits das löwenmähnige Gelb des Hochsommers auflauerte. Näher, schon innerhalb der umgrenzenden Balustrade, lag der Rosengarten, noch näher dann der Triton-Brunnen, an dessen Beckenrand sie ihre Schwester sah; gleich vor ihr stand Robbie Turner. Es wirkte irgendwie offiziell, wie er sich da vor ihr aufgebaut hatte, die Beine leicht gespreizt, den Kopf erhoben. Ein Heiratsantrag. Das würde Briony nicht überraschen. Sie hatte selbst eine Geschichte geschrieben, in der

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