McEwan Ian
ein einfacher Holzfäller eine Prinzessin vor dem Ertrinken rettete und sie dann heiratete. Was sich hier ihren Blicken bot, paßte dazu. Robbie Turner, der einzige Sohn einer einfachen Putzfrau und eines unbekannten Vaters, Robbie, dem Brionys Vater den Besuch von Schule und Universität ermöglicht hatte, der Landschaftsgärtner hatte werden wollen und nun daran dachte, Medizin zu studieren, dieser Robbie besaß die kühne Vermessenheit, Cecilia einen Antrag zu machen. Das war völlig verständlich. Solche dramatischen Augenblicke, die alle Standesgrenzen vergessen ließen, waren der Stoff, aus dem Liebesgeschichten sind.
Nicht ganz so verständlich war jedoch, wieso Robbie jetzt gebieterisch die Hand hob, als erteile er einen Befehl, dem Cecilia sich nicht zu widersetzen wagte. Wirklich erstaunlich, daß sie sich nicht gegen ihn durchzusetzen wußte. Offenbar auf sein Drängen hin zog sie ihre Kleider aus, und das auch noch rasend schnell. Schon trug sie keine Bluse mehr, nun ließ sie den Rock zu Boden sinken und trat einen Schritt beiseite, während er ihr, die Hände in den Hüften, ungeduldig zusah. Welch seltsame Macht besaß er über sie? Erpressung? Drohungen? Briony hob beide Hände vors Gesicht und wich ein wenig vom Fenster zurück. Sie sollte lieber die Augen schließen, dachte sie, sollte sich den Anblick der Demütigung ihrer Schwester ersparen. Doch das war unmöglich, denn es gab weitere Überraschungen. Cecilia, die zum Glück noch ihre Unterwäsche trug, stieg ins Becken, stand hüfttief im Wasser, hielt sich die Nase zu – und verschwand. Nur noch Robbie war zu sehen, auf dem Kiesweg lagen die Kleider, weiter hinten der stille Park und die fernen, blauen Berge.
Die Abfolge der Ereignisse war unlogisch – Ertrinken und anschließende Rettung hätten dem Heiratsantrag vorausgehen müssen. Das jedenfalls war Brionys letzter Gedanke, ehe sie sich damit abfand, daß sie schlichtweg nicht begriff, was dort geschah, und einfach weiter zusehen mußte. Aus dem zweiten Stock, gleichsam über Jahre hinweg, konnte sie unbemerkt und bei einwandfreiem Sonnenlicht einen Blick auf die Welt der Erwachsenen werfen, auf ihre Riten und Gepflogenheiten, von denen sie nichts wußte, noch nicht. Solche Dinge passierten also. Noch während der Kopf ihrer Schwester wieder auftauchte – Gott sei Dank! –, überkam Briony eine erste, undeutliche Ahnung, daß die Zeit der Märchenschlösser und Prinzessinnen für sie vorbei war, daß es von nun an um dieses merkwürdige Hier und Jetzt gehen würde, um die Frage, was zwischen den Menschen geschah, den ihr bekannten gewöhnlichen Sterblichen, welche Macht der eine über den anderen haben mochte und wie rasch man alles falsch, völlig falsch verstehen konnte. Cecilia war aus dem Becken gestiegen, griff nach ihrem Rock und streifte sich gleich darauf mit einiger Mühe die Bluse über die feuchte Haut. Dann wandte sie sich abrupt um, hob aus dem tiefen Schatten des Brunnenrandes eine Blumenvase auf, die Briony zuvor nicht bemerkt hatte, und ging damit zum Haus. Kein Wort zu Robbie, kein Blick.
Er starrte ins Wasser, zweifellos ganz mit sich zufrieden, und eilte dann ebenfalls in Richtung Haus. Plötzlich lag der Schauplatz verlassen da; allein der nasse Fleck auf dem Boden, dort, wo Cecilia dem Brunnen entstiegen war, bewies, daß überhaupt etwas vorgefallen war.
Briony lehnte an der Wand und starrte mit leerem Blick ins Kinderzimmer. Sie war versucht, sich dramatisch und verzaubert zu fühlen und das, was sie gesehen hatte, für ein Tableau vivant zu halten, das eigens ihretwegen aufgeführt worden war, ein Moralstück in rätselhaftem Gewand, allein für sie. Doch wußte sie sehr wohl, daß es bei diesem Vorfall überhaupt nicht um sie gegangen war, daß er auch dann geschehen wäre, wenn sie nicht dort gestanden hätte, wo sie nun einmal stand. Nur der Zufall hatte sie ans Fenster geführt. Dies war kein Märchen, dies war die Wirklichkeit, die Welt der Erwachsenen, in der Frösche nicht mit Prinzessinnen redeten und die einzigen Botschaften jene waren, die die Menschen einander zukommen ließen. Sie könnte natürlich auf Cecilias Zimmer laufen und eine Erklärung verlangen. Doch Briony widerstand dieser Versuchung, sie wollte allein für sich jenem vagen Kitzel des Denkbaren folgen, den sie zuvor schon manchmal empfunden hatte, jener flüchtigen Erregung angesichts einer Ahnung, die sie schon beinahe zu fassen meinte, zumindest intuitiv. Im Laufe der Jahre würde
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