McEwan Ian
dieser Gedanke immer greifbarer werden. Sie würde sich eingestehen, daß sie ihrem dreizehnjährigen Ich womöglich mehr Erkenntnis zugebilligt hatte, als wahrscheinlich war. Es mochte ihr damals an den genauen Worten gefehlt haben, doch hatte sie wohl nichts weiter im Sinn gehabt, als endlich mit dem Schreiben zu beginnen.
Während sie im Kinderzimmer auf die Rückkehr ihrer Kusine und ihrer Vettern wartete, hatte sie das Gefühl, eine Szene wie die am Brunnen beschreiben und auch eine verborgene Beobachterin wie sich selbst einfügen zu können. Schon malte sie sich aus, wie sie nach unten in ihr Schlafzimmer eilte, zu einem neuen Block mit liniertem Papier und ihrem marmorierten Bakelitfüller. Sie konnte die einfachen Sätze vor sich sehen, die anwachsende Zahl telepathischer Symbole, die aus der Feder quollen. Sie würde die Szene dreimal darstellen, aus drei verschiedenen Perspektiven; die Aussicht auf ihre schriftstellerische Freiheit erregte sie, endlich erlöst vom lästigen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Held und Schurke. Keiner der drei war böse, und sie waren allesamt nicht sonderlich gut. Sie mußte nicht urteilen. Es brauchte keine Moral zu geben. Sie hatte bloß unabhängige Individuen darzustellen, die so lebendig wie sie selbst waren und mit dem Gedanken rangen, daß der Geist anderer Menschen so lebendig wie der eigene sein könnte. Nicht bloß Niedertracht und Ränkespiel, sondern Verwirrung und Mißverständnis machten die Menschen unglücklich, vor allem aber ihr Unvermögen, die simple Wahrheit zu begreifen, daß andere Menschen ebenso real waren wie sie selbst. Nur in der erzählenden Form konnte man in diese fremden Seelen eindringen und sie gleichberechtigt nebeneinander darstellen. Eine andere Moral brauchte keine Geschichte zu haben.
Sechs Jahrzehnte später würde sie schildern, wie sie sich im Alter von dreizehn Jahren gewissermaßen durch die Literaturgeschichte geschrieben hatte, von ersten Geschichten in der europäischen Tradition der Sagen und Märchen über Theaterstükke mit schlichter Moral bis hin zu jenem unparteiischen psychologischen Realismus, den sie während einer Hitzewelle im Jahre 1935 an einem bestimmten Vormittag für sich entdeckt hatte. Sie würde sehr wohl um das Ausmaß ihrer Selbststilisierung wissen und diese Erklärung in mokantem oder zumindest selbstironischem Ton abgeben. Ihr Werk war dafür bekannt, daß ihm jegliche Moral abging, doch wie so viele Autoren fühlte sie sich durch wiederholte Fragen gedrängt, eine Geschichte zu spinnen, eine Skizze ihres Werdegangs zu geben, die jenen Augenblick umschrieb, in dem sie unverkennbar sie selbst geworden war. Sie wußte, daß es nicht richtig war, in der Mehrzahl von ihren Theaterstücken zu sprechen, daß ihr Spott sie von dem ernsten, nachdenklichen Kind distanzierte und sie sich nicht so sehr an den lang vergangenen Vormittag als vielmehr an die späteren Schilderungen davon erinnerte. Womöglich waren ihr die Gedanken an einen gekrümmten Finger, an die Überlegenheit der Erzählung über das Theaterstück und die unerträgliche Vorstellung fremder Seelen an ganz anderen Tagen in den Sinn gekommen, doch erhielt, was immer sich zugetragen hatte, Bedeutung erst durch ihr veröffentlichtes Werk und wäre ansonsten in Vergessenheit geraten.
Sie konnte allerdings nicht allzuweit vom Geschehenen abweichen, schließlich bestand kein Zweifel daran, daß ihr eine Art von Offenbarung zuteil geworden war. Als das junge Mädchen zurück ans Fenster ging und hinabblickte, war der nasse Fleck auf dem Kies verdunstet. Von der Pantomime am Brunnen war nun nichts mehr übrig außer dem, was in der Erinnerung fortdauerte, in drei verschiedenen, sich überschneidenden Erinnerungen. Die Wahrheit war so schemenhaft geworden wie die Phantasie. Sicher könnte Briony jetzt gleich beginnen, könnte niederschreiben, was sie gesehen hatte, könnte sich der Herausforderung stellen, indem sie sich weigerte, ihre Schwester zu verurteilen, die sich vorm Haus und bei hellem Tageslicht fast nackt gezeigt hatte. Dann müßte die Szene neu gestaltet werden, einmal durch Cecilias, dann durch Robbies Augen. Doch jetzt blieb dafür keine Zeit. Brionys Pflichtgefühl wie auch ihr Ordnungssinn waren übermächtig; sie mußte beenden, was sie begonnen hatte, es galt Proben abzuhalten, Leon war auf dem Weg hierher, und die Familie erwartete am Abend eine Theatervorstellung. Vielleicht sollte sie noch einmal in die Waschküche gehen und
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