McEwan Ian
dem vor Haß triefenden Ehepaar Mr. und Mrs. Paul Marshall und einer Hermione, der es nicht gelang, ihre Verachtung für Cecil zu verbergen. Briony blieb noch ein, zwei Minuten, als hielte die Musik sie zurück, dann aber ärgerte sie ihre Feigheit, und sie eilte hinaus in den von Säulen getragenen Portikus. Der Vikar war schon fast hundert Meter weit fort und eilte mit kräftig schwingenden Armen durch den Park davon. Die Frischvermählten saßen im Rolls, Marshall am Steuer, fuhren rückwärts und wendeten. Briony war überzeugt, daß die beiden sie sehen konnten. Mit metallischem Knirschen legte Marshall den Gang ein - vielleicht ein gutes Zeichen. Der Wagen brauste davon, und durch ein Seitenfenster sah sie Lola, deren weiße Gestalt
sich an den Fahrer schmiegte. Was die übrigen Hochzeitsgäste betraf, so waren sie bereits spurlos unter den Bäumen verschwunden.
D ie Karte sagte ihr, daß Balham am anderen Parkende lag, in jener Richtung also, in die der Vikar ging. Bis dahin war es nicht weit, und allein aus diesem Grund zögerte sie. Sie würde zu früh kommen. Außerdem hatte sie noch nichts gegessen, und sie war durstig. Ihre Ferse puckerte und schien an ihrem Schuh festzukleben. Es war warm geworden. Sie würde eine weite, schattenlose Fläche überqueren müssen, die von einigen wenigen schnurgeraden Asphaltwegen durchzogen wurde und auf der nur hier und da Unterstände zu sehen waren. In der Ferne entdeckte sie einen Pavillon, vor dem Männer in dunkelblauen Uniformen umherschlenderten. Sie dachte an Fiona, deren freien Tag sie eingetauscht hatte, und an ihren gemeinsamen Nachmittag im St. James Park. Wie lang sie vorbei schien, diese unschuldige Zeit, dabei waren kaum zehn Tage vergangen. Jetzt würde Fiona bald mit der zweiten Runde Bettpfannen anfangen. Sie blieb im Schatten der Säulenhalle und dachte an das kleine Geschenk, das sie ihrer Freundin kaufen wollte – irgendeine leckere Köstlichkeit, eine Banane, Orangen oder etwas Schweizer Schokolade. Die Krankenträger wußten, wo es so etwas gab. Briony hatte sie sagen hören, daß sich alles organisieren ließe, wenn man das nötige Geld habe. Sie sah dem Verkehrsstrom zu, der den Park in ihrer Richtung umfloß, und dachte an Essen. Schinkenscheiben, pochierte Eier, gebratene Hühnerschenkel, kräftigen Eintopf, Zitronenbaiser. Eine Tasse Tee. Die unruhige, fahrige Musik drang erst in ihre Gedanken, als sie verstummte, und in der raumgreifenden Stille, die plötzlich eine ungeahnte Freiheit zu versprechen schien, entschied sie, daß sie erst einmal frühstücken mußte. Allerdings konnte sie auf ihrem Weg keine Restaurants oder Geschäfte erkennen, nur langweilige Mietshäuser aus Ziegelsteinen in dunklem Orange.
Einige Minuten vergingen, dann kam der Organist aus der Kirche, den Hut in der einen, einen schweren Schlüsselbund in der anderen Hand. Sie hätte ihn gern nach dem nächsten Café gefragt, aber er war ein fahrig wirkender Mann, ganz eins mit seiner Musik, der fest entschlossen schien, sie nicht weiter beachten zu wollen, während er die Tür ins Schloß krachen ließ und sich bückte, um abzuschließen. Dann rammte er sich den Hut in die Stirn und eilte davon.
Vielleicht war dies der erste Schritt, der dazu führte, daß sie ihre Pläne aufgab, doch ging sie bereits zurück, lief wieder in Richtung Clapham High Street, woher sie gekommen war. Sie würde frühstücken und alles noch einmal überdenken. Unweit der Untergrundbahn kam sie an einem Steintrog vorbei und hätte zu gern ihr Gesicht ins Wasser getaucht. Dann fand sie ein trostloses kleines Café mit schmierigen Fenstern und zahllosen Zigarettenstummeln auf dem Boden, doch konnte das Essen kaum schlimmer als das sein, was sie gewohnt war. Sie bestellte Tee, dazu drei Scheiben Toast mit Margarine und blaßrötlicher Erdbeermarmelade und häufte reichlich Zucker in ihre Tasse, da sie sich selbst die Diagnose gestellt hatte, an Hypoglykämie zu leiden. Der Zucker vermochte allerdings den Geschmack nach Desinfektionsmittel nicht ganz zu überdekken.
Sie trank eine zweite Tasse, froh, daß sie den lauwarmen Tee rasch in sich hineinschütten konnte, und ging dann hinters Café und über einen gepflasterten Hof, um die stinkende, sitzbrillenlose Toilette zu benutzen. Aber es gab keinen Gestank, der eine Lernschwester beeindrucken konnte. Sie klemmte sich etwas Klopapier zwischen Ferse und Schuh; damit würde sie es weitere zwei oder drei Kilometer aushaken können. Festgeschraubt an
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