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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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die Ziegelwand war ein Waschbecken mit einem einzigen Hahn, neben dem ein grauadriges Seifenstück lag, das sie lieber nicht anfassen wollte. Als sie den Hahn aufdrehte, spritzte ihr das Wasser direkt auf die Knie. Sie wischte sie mit dem Ärmel trocken, kämmte sich das Haar und versuchte, sich auf den Ziegeln ihr Gesicht vorzustellen. Die Lippen konnte sie ohne Spiegel allerdings nicht nachziehen. Sie befeuchtete ihr Taschentuch, tupfte sich das Gesicht ab und klopfte sich auf die Wangen, um etwas Farbe hineinzubringen. Eine Entscheidung war gefallen – scheinbar ohne ihr Zutun. Sie bereitete sich auf ein Einstellungsgespräch vor. Sie bewarb sich um den Posten der jüngeren Schwester.
Sie verließ das Café und spürte, während sie durch den Park ging, wie sich die Entfernung zwischen ihr und ihrem anderen, ebenso realen Ich ausweitete, das zurück zum Krankenhaus ging. Vielleicht war aber auch die Briony, die nach Balham eilte, bloß ihr imaginiertes, gespenstisches Ebenbild. Dieses unwirkliche Gefühl wurde noch dadurch verstärkt, daß sie nach einer halben Stunde auf eine weitere High Street stieß, die mehr oder weniger genauso wie jene aussah, die sie gerade hinter sich gelassen hatte. Das nämlich war London, wenn man sich aus dem Zentrum vorwagte: eine Ansammlung kleiner, langweiliger Städte. Sie faßte den Entschluß, niemals in einer von ihnen zu wohnen. Die gesuchte Straße lag drei Querstraßen hinter der Untergrundstation, die selbst nur ein Nachbau war. Fast einen Kilometer lang zogen sich die schäbigen Reihenhäuser hin, vor deren Fenstern Stores hingen. Nummer 43, Dudley Villas, lag auf halber Strecke und unterschied sich durch nichts von den übrigen Häusern, sah man einmal von einem alten Ford 8 ab, der, ohne Räder, auf Steinen aufgebockt, den gesamten Vorgarten einnahm. Wenn keiner zu Hause war, konnte sie immer noch wieder gehen und sich einreden, daß sie es wenigstens versucht hatte. Die Klingel funktionierte nicht. Sie ließ den Türklopfer zweimal fallen, trat zurück, hörte eine wütende Frauenstimme, dann ein Türknallen und gleich darauf lautes Getrappel. Briony wich einen weiteren Schritt zurück. Noch war es nicht zu spät, sie konnte einfach wieder davonlaufen. Jemand hantierte am Schloß, ein gereizter Seufzer, dann wurde die Tür von einer großen Frau um die Dreißig mit scharf geschnittenen Gesichtszügen geöffnet. Irgendeine schreckliche Anstrengung hatte sie völlig außer Atem gebracht. Sie kochte vor Wut. Sie war mitten in einem Streit unterbrochen worden und hatte sich, während sie Briony musterte, noch nicht wieder gefangen - ihr Mund stand offen, die Oberlippe war leicht hochgezogen. »Was wollen Sie?«
»Ich suche Miss Cecilia Tallis.«
Die Schultern der Frau sackten herab, und sie drehte den Kopf zur Seite, als schauderte sie vor einer Beleidigung zurück. Sie musterte Briony von oben bis unten.
»Sie sehen ihr ähnlich.«
Verwirrt starrte Briony sie einfach nur an.
Die Frau stieß noch einen Seufzer aus, der sich anhörte, als wollte sie gleich ausspucken, und ging dann in den Flur bis an den Fuß der Treppe.
»Tallis!« schrie sie gellend. »Besuch!«
Sie stolzierte den halben Flur zurück zur Wohnzimmertür, warf Briony einen verächtlichen Blick zu, verschwand und knallte die Tür hinter sich ins Schloß.
Es war still im Haus. Brionys Blick durch die offene Haustür fiel auf ein Stück Linoleum mit Blumenmuster und auf die ersten sieben oder acht Stufen mit dem dicken, roten Läufer. An der dritten Stufe fehlte die Messingstange. Im Flur stand ein halbrunder Wandtisch mit einem auf Hochglanz polierten Briefgestell, das wie ein Toastscheibenständer aussah. Das Gestell war leer. Das Linoleum zog sich an der Treppe vorbei bis zu einer Tür mit einer Mattglasscheibe. Bestimmt ging es da zur Küche. Auf der Tapete waren auch Blumen – ein Strauß Rosen, drei Stiele, wechselte sich mit einem Schneeflockenmuster ab. Von dei“ Türschwelle bis zum Treppenanfang konnte sie fünfzehn Rosensträuße und sechzehnmal die Schneeflocken zählen. Kein gutes Omen.
Endlich hörte sie, wie oben eine Tür geöffnet wurde, bestimmt dieselbe, die zugeknallt worden war, als sie unten geklopft hatte. Dann das Knarren der Treppenstufen und Füße, die in ihr Blickfeld kamen, Füße mit dicken Socken, darüber ein Streifen nackter Haut und schließlich ein blauer, vertrauter Seidenmantel. Zu guter Letzt sah sie das schräg geneigte Gesicht, als Cecilia sich vorbeugte, um

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