McEwan Ian
Cecilia: »Weiter. Was noch?« »Na ja, die meisten Jungs aus dem Dorf sind zu den East Surreys gegangen, nur -«
»Nur Danny Hardman nicht. Ja, ich weiß das alles.« Sie lächelte ein strahlendes, künstliches Lächeln und wartete darauf, daß Briony fortfuhr.
»Vor der Post hat man einen Bunker gebaut, und der alte Eisenzaun wurde abmontiert. Ahm. Tante Hermione wohnt jetzt in Nizza, und, ach ja, Betty hat Onkel Clems Vase zerbrochen.« Erst jetzt schien Cecilia ihre abweisende Haltung aufzugeben. Sie löste die verschränkten Arme und preßte eine Hand an die Wange.
»Zerbrochen?«
»Sie hat sie auf der Treppe fallen lassen.«
»Du meinst richtig zerbrochen? In ganz viele Teile?« »Ja.«
Cecilia dachte darüber nach. Schließlich sagte sie: »Das ist ja schrecklich.«
»Ja«, erwiderte Briony. »Der arme Onkel Clem.« Wenigstens klang ihre Schwester nicht mehr so verächtlich. Das Verhör wurde fortgesetzt.
»Haben sie die Scherben behalten?«
»Ich weiß nicht. Emily hat geschrieben, der alte Herr hätte Betty angeschrien.«
In diesem Augenblick flog die Wohnzimmertür auf und die Vermieterin stand so dicht vor Briony, daß sie den Pfefferminzgeruch im Atem der Frau riechen konnte. Sie zeigte auf die Haustür.
»Das hier ist kein Bahnhof. Entweder Sie kommen rein, junge Frau, oder Sie gehen wieder.«
Ohne sich sonderlich zu beeilen, stand Cecilia auf, zog den Seidengürtel um den Morgenmantel enger und sagte in kühlem Ton: »Das ist Briony, meine Schwester, Mrs. Jarvis. Achten Sie bitte auf Ihre Manieren, wenn Sie mit ihr reden.«
»In meinem Haus rede ich, wie es mir paßt«, sagte Mrs. Jarvis und kehrte Briony den Rücken zu. »Bleiben Sie, wenn Sie bleiben wollen, ansonsten gehen Sie bitte, und schließen Sie die Tür hinter sich.«
Briony blickte ihre Schwester an und vermutete, daß sie sie jetzt kaum gehen lassen würde. Mrs. Jarvis war unverhofft zu ihrer Verbündeten geworden.
Cecilia sprach zu ihr, als wenn sie allein wären: »Hör gar nicht auf meine Vermieterin. Ich ziehe hier Ende nächster Woche aus. Mach einfach die Tür zu, und komm mit nach oben.« Unter Mrs. Jarvis’ Blicken folgte Briony ihrer Schwester die Treppe hinauf.
»Und was Sie angeht, Gräfin Koks -«, rief die Hauswirtin nach oben.
Doch da fuhr Cecilia herum und unterbrach sie mitten im Satz. »Genug jetzt, Mrs. Jarvis. Nun ist wirklich genug.«
Briony kannte die Stimme: die reinste Nightingale, zum Gebrauch gegenüber schwierigen Patienten und weinerlichen Lernschwestern empfohlen. Es dauerte Jahre, diesen Ton zu perfektionieren. Keine Frage, Cecilia war zur Stationsschwester befördert worden.
Im ersten Stock, kurz bevor sie die Tür öffnete, warf Cecilia ihrer Schwester einen Blick zu, einen kühlen, distanzierten Blick, der sie wissen lassen sollte, daß sich nichts verändert hatte, daß nichts einfacher geworden war. Aus dem Bad auf der anderen Flurseite drang feuchtwarme Luft herüber, ein Geruch nach Parfüm und ein dumpfes Tröpfeln. Offenbar hatte Cecilia gerade in die Wanne steigen wollen. Sie führte Briony in ihre Wohnung. Auf den Zimmern der ordentlichsten Schwestern herrschte manchmal die größte Unordnung, und Briony wäre nicht überrascht gewesen, eine Neuauflage von Cecilias früherem Chaos zu erleben, doch machten ihre Räume den Eindruck, als führte sie ein ziemlich einfaches, einsames Leben. Ein mittelgroßes Zimmer hatte man unterteilt, um daraus einen schmalen Streifen Küche und aus der zweiten Hälfte vermutlich ein Schlafzimmer zu machen. Die Tapete mit den blassen, senkrechten Streifen erinnerte an einen Jungenschlafanzug und verstärkte noch das Gefühl des Eingesperrtseins. Auf dem Boden lagen die Reste des Linoleums im Parterre; an manchen Stellen kamen die grauen Dielen zum Vorschein. Unter einem längsgeteilten Fenster war ein Waschbecken angebracht, daneben befand sich ein Gasherd mit einer einzigen Kochplatte. An der Wand stand ein Tisch, der kaum Platz ließ, sich daran vorbeizudrücken, darauf eine gelbe Baumwolldecke, ein Marmeladenglas mit blauen Blumen, vermutlich Glockenblumen, und ein voller Aschenbecher. Daneben ein Stapel Bücher. Zuunterst entdeckte sie Gray’s Anatomy und eine Ausgabe der gesammelten Werke Shakespeares, darüber, auf schlankeren Buchrücken, Namen in verblaßten Silber- und Goldlettern – Gedichte von Housman und Crabbe. Vor den Büchern zwei Bierflaschen. In der dem Fenster gegenüberliegenden Ecke war die Tür zum Schlafzimmer, an der eine Karte von Nordeuropa
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