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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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aus und sagte in jenem verwegenen Schurkenton, der nur für sie bestimmt war: »Wenn das nicht mein kleines Schwesterchen ist!«
Kreischend rief Briony den Namen ihres Bruders, lief in seine Arme und drückte, während sie an Cecilia vorüberflog, ihrer Schwester ein doppelt gefaltetes Stück Papier in die Hand.
Da Cecilia wußte, daß ihre Mutter sie beobachtete, setzte sie eine Miene amüsierter Neugier auf, ehe sie den Zettel auseinanderfaltete. Und diese Miene vermochte sie sogar noch beizubehalten, als sie das kleine Quadrat aus getippten Buchstaben überflog und mit einem Blick in sich aufnahm – eine Botschaft, deren Ton und Wucht von dem einen, mehrfach wiederholten Wort bestimmt wurde. Neben ihr erzählte Briony ihrem Bruder von dem Theaterstück, das sie für ihn geschrieben hatte, und schilderte ihm jammernd, wieso die Proben geplatzt waren. Die Heimsuchungen Arabellas sagte sie stets aufs neue. Die Heimsuchungen Arabellas. Selten hatte sie so enthusiastisch, so aufgekratzt gewirkt. Ihre Arme schlangen sich immer noch um seinen Hals, und sie stand auf Zehenspitzen, um ihre Wange an sein Gesicht zu schmiegen. Anfangs kreiste in Cecilias Gedanken bloß ein einziges Wort: Natürlich, natürlich. Warum war ihr das bloß vorher nicht aufgefallen? Jetzt war ihr alles klar. Der ganze Tag, die Wochen zuvor, ihre Kindheit. Ein Leben. Jetzt begriff sie. Warum hätte sie sonst so lang gebraucht, ein Kleid auszuwählen, warum sich wegen einer Vase gestritten, warum alles so anders gefunden, warum nicht abreisen können? Was hatte sie bloß so blind, so begriffsstutzig gemacht? Sekunden vergingen; sie konnte unmöglich noch länger starr auf das Blatt blicken. Beim Zusammenfalten aber dämmerte ihr etwas: Dieser Brief war doch bestimmt nicht unverschlossen geschickt worden. Sie wandte sich zu ihrer Schwester um. Leon sagte gerade: »Wie war’s denn damit? Ich kann gut meine Stimme verstellen und verschiedene Rollen sprechen, du sogar noch besser. Warum tragen wir das Stück nicht zusammen vor?« Cecilia trat um ihn herum, um Briony ansehen zu können. »Briony? Hast du das hier gelesen, Briony?«
Doch Briony, die irgendeine schrille Antwort auf den Vorschlag ihres Bruders gab, wand sich in seinen Armen, versteckte sich vor ihrer Schwester und vergrub das Gesicht in Leons Jackett. Vom anderen Salonende sagte Emily beschwichtigend: »Immer mit der Ruhe.«
Wieder wechselte Cecilia ihre Stellung und stand nun auf der anderen Seite ihres Bruders: »Wo ist der Umschlag?«
Doch Briony wandte erneut das Gesicht ab und lachte hysterisch über etwas, das Leon gesagt hatte.
Dann merkte Cecilia, daß noch jemand im Raum war, der sich irgendwo hinter ihr bewegte, nah am Rand ihrer Wahrnehmung, und als sie sich umdrehte, stand Paul Marihall vor ihr. Er hielt ein silbernes Tablett in der Hand, auf dem fünf Cocktailgläser standen, jedes zur Hälfte mit einer breiigen, braunen Flüssigkeit gefüllt. Er nahm ein Glas und reichte es ihr.
»Probieren Sie. Nur zu, ich bestehe darauf.«

Zehn
    A llein schon ihre verworrenen Empfindungen bestätigten Briony, daß sie eine Arena erwachsener Gefühle und Scheinheiligkeiten betreten hatte, von der sie als Schriftstellerin nur profitieren konnte. Welches Märchen wäre je so widersprüchlich gewesen? Heftige, unbeherrschte Neugier hatte sie veranlaßt, den Brief aus dem Umschlag zu reißen – sie las ihn in der Eingangshalle, kaum daß sie von Polly eingelassen worden war –, aber obwohl die schockierende Notiz ihre Tat im nachhinein rechtfertigte, meldete sich nun ihr schlechtes Gewissen. Es war falsch, anderer Leute Briefe zu öffnen, doch war es Rechtens und für sie enorm wichtig, möglichst umfassend Bescheid zu wissen. Natürlich hatte sie sich gefreut, ihren Bruder wiederzusehen, nur hielt sie das nicht davon ab, ihre Gefühle zu übertreiben, um der vorwurfsvollen Frage ihrer Schwester auszuweichen. Und anschließend hatte sie so getan, als renne sie nach oben auf ihr Zimmer, um beflissen der Anordnung ihrer Mutter zu folgen – dabei wollte sie nicht bloß Cecilia entkommen, sondern auch allein sein, um erneut über Robbie nachzudenken und die ersten Sätze einer Geschichte zu Papier zu bringen, die ihr das Leben selbst diktierte. Keine Prinzessinnen mehr! Der Vorfall am Brunnen, diese Ahnung einer schrecklichen Bedrohung, und zum Schluß, als beide ihrer Wege gegangen waren, die flimmernde Leere, die über dem nassen Fleck auf dem Kies zitterte – all das mußte überdacht

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