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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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werden. Dieser Brief war etwas Elementares, Brutales, vielleicht sogar etwas Kriminelles, ein dunkles Prinzip, und bei aller Aufregung über die Möglichkeiten, die sich dadurch eröffneten, zweifelte sie nicht daran, daß ihre Schwester irgendwie bedroht wurde und Hilfe brauchte.
Das Wort: Sie gab sich Mühe, es nicht in ihren Gedanken nachklingen zu lassen, und doch tanzten die Buchstaben obszön in ihrem Kopf herum, als jonglierte ein Druckfehlerteufel mit vagen, anzüglichen Anagrammen – böse Möwe; im Theater eine flüsternde Vorsagerin französischer Herkunft; ein Metallring zum Durchziehen einer Schnur. Reimworte wie aus einem Kinderbuch blitzten auf – ein großes Lärmen, Kutteln fielen ihr ein, eine Beilage aus Semmelbröseln, aber auch etwas, das sie sich selbst niemals geben wollte. Natürlich hatte sie das Wort noch nie gehört, hatte es nicht geschrieben gesehen oder auch nur in Sternchen gesetzt entdeckt. Nie hatte man in ihrer Gegenwart auf die Existenz dieses Wortes hingedeutet, ja, nicht einmal ihre Mutter hatte je auf das Vorhandensein jenes Körperteils verwiesen, auf den sich – ganz bestimmt – dieses Wort bezog. Sie zweifelte keine Sekunde an dem, was damit gemeint war. Der Zusammenhang half, schon der zweite Buchstabe schien ein genaues typographisches Abbild geben zu wollen. Daß aber das Wort von einem Mann geschrieben worden war, der damit gestand, dieses Bild im Sinn zu haben, der bekannte, in seiner Einsamkeit davon besessen zu sein, erfüllte sie mit tiefster Abscheu.
Dreist hatte sie den Zettel mitten in der Eingangshalle gelesen und gleich die Gefahr gespürt, die von solch brutaler Unverblümtheit ausging. Etwas unabweisbar Menschliches oder Männliches schien die Ordnung im Haus zu stören, und Briony wußte, wenn sie ihrer Schwester nicht zu Hilfe eilte, würden sie alle darunter leiden. Ihr war auch klar, daß sie Cecilia nur auf behutsame, taktvolle Weise helfen konnte, denn sonst, das wußte Briony aus Erfahrung, würde sich ihre Schwester gegen sie wenden.
Diesen Gedanken hing sie nach, während sie Gesicht und Hände wusch und ein frisches Kleid auswählte. Die dazu passenden Socken blieben unauffindbar, doch verschwendete sie keine Zeit darauf, sie zu suchen, sondern zog andere an, band die Schnürsenkel ihrer Schuhe und setzte sich an ihren Schreibtisch. Unten trank man Cocktails, also hatte sie mindestens zwanzig Minuten für sich allein. Das Haar würde sie noch schnell bürsten, bevor sie aus dem Zimmer lief. Vor dem offenen Fenster zirpte eine Grille. Im tröstlich gelben Lichtkegel der Tischlampe lag vor ihr ein Stoß Notizpapier aus Vaters Büro; der Füllfederhalter ruhte in ihrer Hand. Das Heer der Bauernhoftiere stand in Reih und Glied auf dem Fensterbrett; die prüden Puppen posierten in den diversen Zimmern ihres zur Vorderseite hin offenen Landhauses und warteten gespannt auf die ersten Wortperlen der gefeierten Autorin. In diesem Augenblick aber war der Drang zum Schreiben stärker als Brionys Vorstellung von dem, was sie eigentlich schreiben wollte. Am liebsten hätte sie sich einer Idee überlassen, die ihr wie von allein die Feder führte, wollte den schwarzen Faden sehen, der aus ihrer kratzenden, silbrigen Federspitze spulte und sich zu Worten verknüpfte. Doch wie sollte sie den Veränderungen gerecht werden, die sie endlich zu einer richtigen Schriftstellerin gemacht hatten, wie dem chaotischen Schwärm neuer Eindrücke, dem Ekel und der Faszination, die sie empfand? Ordnung mußte her. Sie wollte, wie längst beschlossen, mit einem schlichten Bericht dessen beginnen, was sie am Brunnen gesehen hatte. Doch dieser Vorfall im Sonnenlicht war nicht halb so interessant wie die Dämmerung, die Minuten auf der Brücke, sie, verloren in trägen Tagträumereien, und dann Robbie, der aus dem Halbdunkel auftauchte und ihren Namen rief, in der Hand dies kleine weiße Rechteck, das den Brief enthielt, der wiederum das Wort enthielt. Welche Botschaft aber enthielt dieses Wort?
Sie schrieb: »Es war einmal ein Mann, der hatte einen Schwamm…«
Bestimmt war es nicht zu kindisch, wenn sie behauptete, Stoff für eine Geschichte zu haben, denn dies war zweifellos die Geschichte eines Mannes, der von allen geliebt wurde, dem die Heldin aber noch nie so recht getraut hatte; und schließlich konnte sie, Briony, sogar beweisen, daß er die Verkörperung des Bösen schlechthin war. Aber sollte sie als Schriftstellerin inzwischen nicht welterfahren genug sein, um über

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