McEwan Ian
klackten. Das dürfte Cecilia sein, die Robbie öffnete. Da sie fürchtete, man könnte Lola unten hören, stand BriBriony erneut auf und zog die Schlafzimmertür zu. Der Kummer ihrer Kusine weckte in ihr eine vage Unruhe, einen geradezu freudigen Eifer. Sie ging zum Bett zurück und legte den Arm um Lola, die ihre Hände vors Gesicht schlug und weinte. Daß zwei neunjährige Jungen einem derart schroffen, herrischen Mädchen so zusetzen konnten, erstaunte Briony und verlieh ihr ein Gefühl von Macht – daher der freudige Eifer. Vielleicht war sie selbst doch nicht so schwach, wie sie stets angenommen hatte; schließlich hatte man sich an anderen Menschen zu messen – sie waren der einzige Anhaltspunkt. Und hin und wieder erfuhr man dabei sogar etwas Wichtiges über sich selbst. Da sie nicht wußte, was sie sagen sollte, tätschelte sie ihrer Kusine die Schultern und dachte, daß Jackson und Pierrot kaum allein für einen solchen Kummer verantwortlich sein konnten; aber dann fiel ihr wieder ein, daß es in Lolas Leben noch andere Probleme gab. Das Haus im Norden – Briony stellte sich Straßen mit ruß geschwärzten Fabriken und unwirsche Männer vor, die mit Stullen in der Blechbüchse zur Arbeit schlurften. Das Heim der Quinceys war verschlossen und würde Lola und ihre Brüder vielleicht nie wieder aufnehmen.
Allmählich beruhigte sich Lola. Behutsam fragte Briony: »Was ist denn passiert?«
Die Größere putzte sich die Nase und dachte einen Augenblick nach. »Ich wollte gerade ins Bad, da kamen sie reingestürzt und fielen über mich her. Irgendwie haben sie mich auf den Boden geworfen…« Bei diesem Gedanken mußte sie erneut gegen ein Schluchzen ankämpfen.
»Aber warum sollten die so was tun?«
Lola holte tief Atem, sammelte sich und starrte blicklos ins Zimmer. »Sie wollen nach Hause. Das geht nicht, hab ich gesagt, und jetzt glauben sie, ich wäre diejenige, die sie hier festhält.«
Daß die Zwillinge unvernünftigerweise ihre Verzweiflung an ihrer Schwester ausließen, konnte Briony sogar verstehen, doch ihr Ordnungssinn verlangte, daß Lola ihre Fassung rasch wiedergewann, denn sie konnten jeden Moment nach unten gerufen werden.
»Das können die einfach noch nicht begreifen«, gab Briony weise von sich, während sie zum Waschbecken ging und heißes Wasser einlaufen ließ. »Sind eben kleine Kinder, die einen harten Schlag verkraften müssen.«
Tief bekümmert senkte Lola den Kopf und nickte so verloren, daß Briony mit einem Mal die zärtlichsten Gefühle für sie empfand. Sie schob Lola ans Waschbecken, drückte ihr einen Waschlappen in die Hand und erzählte ihr dann aus den unterschiedlichsten Beweggründen – dem praktischen Verlangen nach einem Themenwechsel, der Sehnsucht, ein Geheimnis teilen und dem älteren Mädchen zeigen zu können, daß sie selbst auch so ihre Erfahrungen gemacht hatte, doch vor allem, weil sie sich für Lola zu erwärmen begann und sie enger an sich binden wollte – von Robbie und dem Treffen auf der Brücke, vom Umschlag und davon, wie sie ihn geöffnet und was in dem Brief gestanden hatte. Statt das Wort laut auszusprechen, was ihr undenkbar erschien, buchstabierte sie es bloß, und das vorsichtshalber auch noch rückwärts. Die Wirkung auf Lola war überwältigend. Sie hob das tropfnasse Gesicht aus dem Waschbecken, und die Kinnlade fiel ihr runter. Briony reichte ihr ein Handtuch. Sekunden vergingen, in denen Lola um Worte rang. Sie übertrieb ein wenig, fand Briony, aber das war schon in Ordnung, genauso wie ihre heiser geflüsterte Frage: »Denkt daran von früh bis spät?«
Briony nickte und wandte, von der Tragödie schier überwältigt, den Blick ab. Ihre Kusine, die jetzt eine tröstende Hand auf ihre Schulter legte, könnte ihr in Sachen dramatischer Mimik noch allerhand beibringen.
»Wie schrecklich für dich. Der Mann ist ein Psychopath.« Ein Psychopath. Das Wort besaß Raffinesse und die Tragweite einer medizinischen Diagnose. All die Jahre hatte sie ihn gekannt und nicht geahnt, was es mit ihm auf sich hatte. Früher, als sie noch kleiner war, hatte er sie oft huckepack getragen und getan, als wäre er ein Monster. Sie war sogar viele Male mit ihm allein an der Badestelle gewesen, wo er ihr im Sommer Wassertreten und Brustschwimmen beigebracht hatte. Jetzt, da sein Zustand einen Namen trug, empfand sie eine gewisse Genugtuung, doch schien sich das Rätsel um den Brunnen dadurch noch zu vertiefen. Allerdings wollte sie diesen Vorfall lieber mit keinem
Weitere Kostenlose Bücher