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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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derlei einfältige Ideen wie Gut und Böse zu stehen? Es mußte doch einen erhabenen Dichterparnaß geben, von dem aus alle Menschen mit gleichem Maß zu beurteilen waren, von dem aus nicht jeder gegen jeden in einem lebenslangen Hockeyspiel kämpfte, sondern sich alle gemeinsam in glorreicher Unvollkommenheit dem lärmenden Gerangel überließen. Doch falls solch ein Ort existierte, war sie seiner unwürdig. Sie würde Robbie diese ekelhaften Phantasien niemals verzeihen. Wie gelähmt, einerseits von dem Drang, ihre heutigen Erfahrungen in einem einfachen Tagebucheintrag festzuhalten, und andererseits dem Ehrgeiz, etwas Größeres daraus zu machen, etwas Geschliffenes, Eigenes, Obskures zu formulieren, starrte sie stirnrunzelnd einige Minuten auf das Blatt Papier mit dem kindischen Zitat und schrieb kein weiteres Wort. Handlung konnte sie, und für Dialoge hatte sie ein Händchen. Wälder im Winter waren kein Problem, auch eine schauerliche Burgmauer nicht. Doch wie stellte man Gefühle dar? Sicher, sie konnte einfach Sie war traurig hinschreiben oder zeigen, was eine traurige Person tat, doch was war mit der Traurigkeit selbst, wie konnte man die vermitteln, so daß sie in all ihrer niederdrückenden Unmittelbarkeit spürbar wurde? Noch schwieriger waren eine Drohung oder die verwirrende Empfindung widersprüchlicher Gefühle. Mit dem Füller in der Hand blickte sie ins Zimmer und in die starren Gesichter ihrer Puppen, fremd gewordene Gefährten einer Kindheit, die sie nun für abgeschlossen hielt. Eine frostige Erfahrung, dieses Erwachsenwerden. Nie wieder würde sie bei Emily oder Cecilia auf dem Schoß sitzen, höchstens mal zum Spaß. Vor zwei Sommern, an ihrem elften Geburtstag, waren ihre Eltern, ihr Bruder und ihre Schwester sowie eine fünfte Person, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, mit ihr auf den Rasen gegangen und hatten sie in einer Decke elf mal in die Luft geschleudert und vorsorglich – weil es Glück bringen sollte – noch ein weiteres Mal. Würde sie heute noch ähnlich empfinden, die unbändige Freiheit beim Flug hinauf spüren, das blinde Vertrauen in den fürsorglichen Zugriff erwachsener Hände, wenn diese fünfte Person doch ohne weiteres auch Robbie sein könnte? Ein behutsames, weibliches Räuspern ließ sie überrascht aufschauen. Es war Lola. Sie lugte vorsichtig herein und klopfte, kaum trafen sich ihre Blicke, leise an die Tür.
»Darf ich reinkommen?«
Ohne Brionys Antwort abzuwarten, trippelte sie in eiern blauen, enganliegenden Satinkleid ins Zimmer. Ihr Haar hing offen herab, und sie war barfuß. Als sie näher kam, legte Briony den Füller beiseite und verdeckte den geschriebenen Satz mit einem Buch. Lola setzte sich auf den Bettrand, plusterte die Wangen auf und blies theatralisch die Luft wieder aus. Es war, als hätten sie schon immer in schwesterlicher Eintracht einen abendlichen Schwatz gehalten. »Waren das gräßliche Stunden.«
Als Briony unter dem grimmigen Blick ihrer Kusine eine Augenbraue hob, fuhr sie fort: »Die Zwillinge haben mich richtig gefoltert.«
Briony glaubte, sie sagte das nur so dahin, doch kehrte ihr Lola die Schulter zu und zeigte ihr hoch oben auf dem Arm einen langen Kratzer.
»Wie schrecklich!«
Lola streckte die Handgelenke aus, die rundherum aufgescheuert waren.
»Tausend Stecknadeln?«
»Genau.«
»Ich hol dir Jod.« «
»Laß nur, hab mich schon drum gekümmert.« K
Es stimmte, der frauliche Duft von Lolas Parfüm vermochte den Kindergeruch nach Wundsalbe kaum zu überdecken. Da war es doch das mindeste, daß Briony von ihrem Tisch aufstand und sich zu ihrer Kusine setzte.
»Du armes Ding!«
Brionys Mitleid trieb Lola die Tränen in die Augen, und ihre Stimme klang heiser: »Alle halten sie für Engel, bloß weil sie sich so ähnlich sehen, dabei sind sie kleine Bestien.«
Sie unterdrückte einen Schluchzer, schien ihn mit bebendem Kiefer hinabzuwürgen und sog durch geblähte Nüstern wieder tief Luft ein. Briony nahm ihre Hand und meinte zu ahnen, wie man Lola liebgewinnen konnte. Dann ging sie zu ihrer Kommode, holte ein Taschentuch, faltete es auf und reichte es ihr. Lola wollte sich schon schneuzen, als sie beim Anblick fröhlicher, Lasso schwingender Cowgirls leise japste, immer lauter und lauter schluckte und schließlich ein Geräusch von sich gab, als wollte sie Gespenster nachahmen. Unten klingelte es an der Tür, und Augenblicke später war undeutlich zu hören, wie hohe Absätze über die Fliesen der Eingangshalle

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