McEwan Ian
Wort erwähnen, da sie mit einer einfachen Erklärung rechnete und ihre Unwissenheit nicht zur Schau stellen mochte. »Und was will deine Schwester jetzt tun?« »Ich habe keine Ahnung.« Sie verschwieg ebenfalls, daß sie sich vor der nächsten Begegnung mit ihrer Schwester fürchtete.
»Weißt du, gleich am ersten Nachmittag, als er am Schwimmbecken die Zwillinge so angeschrien hat, da habe ich ihn schon für ein Ungeheuer gehalten.«
Briony versuchte, sich ähnliche Momente in Erinnerung zu rufen, in denen bereits Symptome des Wahnsinns zu beobachten gewesen waren. Sie sagte: »Immer hat er so nett getan; der macht uns doch schon seit Jahren was vor.«
Der Themenwechsel hatte bewirkt, was er bewirken sollte, denn die eben noch gerötete Haut um Lolas Augen war nun wieder blaß und voller Sommersprossen und sie selbst ganz die alte. Sie griff nach Brionys Hand. »Ich glaub, wir sollten die Polizei informieren.«
Der Wachtmeister im Dorf war ein netter Mann mit gewichstem Schnurrbart und einer Frau, die ihnen auf dem Fahrrad Hühnerfleisch und frische Eier brachte. Undenkbar, ihm von dem Brief zu erzählen und das Wort zu buchstabieren – ob nun vorwärts oder rückwärts. Sie wollte ihre Hand wieder zurückziehen, aber Lola verstärkte den Griff und schien die Gedanken des jüngeren Mädchens zu erahnen.
»Wir brauchen ihm doch bloß den Brief zu zeigen.«
»Vielleicht möchte sie das nicht.«
»Natürlich will sie das, Psychopathen können über jeden herfallen.« Lola blickte schlagartig bestürzt drein und schien ihrer Kusine etwas Neues erzählen zu wollen, sprang dann aber unvermittelt auf, schnappte sich Brionys Bürste, stellte sich vor den Spiegel und machte Anstalten, sich schwungvoll das Haar zu striegeln. Doch kaum hatte sie damit angefangen, hörten sie Mrs. Tallis zum Essen rufen. Gleich verschlechterte sich Lolas Laune wieder, und Briony vermutete, daß die jüngsten Ereignisse für diese raschen Stimmungswechsel verantwortlich waren.
»Hoffnungslos. Ich bin nicht annähernd fertig«, sagte Lola, wieder den Tränen nah. »Ich hab mit meinem Gesicht noch nicht mal angefangen.«
»Macht nichts«, tröstete Briony sie. »Ich gehe jetzt nach unten und sag Bescheid, daß du gleich nachkommst.« Doch Lola lief schon aus dem Zimmer und schien sie nicht mehr zu hören. Nachdem sich Briony kurz durchs Haar gefahren war, blieb sie ihrerseits vorm Spiegel stehen, musterte das Gesicht und fragte sich, was zu tun wäre, wenn sie damit »anfangen« würde, wozu es gewiß eines Tages kommen mußte. Noch etwas, das Zeit beanspruchen würde. Immerhin brauchte sie keine Sommersprossen zu pudern oder zu übermalen, und das dürfte ihr gewiß einige Arbeit ersparen.
Vor ewig langer Zeit, nämlich vor etwa drei Jahren, war sie zu der Erkenntnis gelangt, daß sie mit nachgezogenen Lip-pen wie ein Clown aussah. Dieses Fazit mußte dringend überdacht werden. Allerdings nicht sofort, denn es gab noch ungeheuer viel zu bedenken. Sie stand vor dem Tisch und schraubte geistesabwesend die Kappe wieder auf den Füllfederhalter. Eine Geschichte zu schreiben war ein armseliges, hoffnungsloses Unterfangen, wenn um sie herum solch mächtige und chaotische Kräfte walteten, daß den ganzen Tag lang ein Ereignis das vorherige beinahe völlig um deutete oder es jedenfalls von Grund auf veränderte. Es war einmal ein Mann, der hatte einen Schwamm. Ob sie nicht einen schrecklichen Fehler begangen hatte, als sie sich ihrer Kusine anvertraute? Cecilia wäre bestimmt nicht glücklich, wenn die reizbare Lola den Inhalt von Robbies Brief hinausposaunte. Und wie sollte sie jetzt nach unten gehen und mit einem Psychopathen am Tisch sitzen? Wenn die Polizei ihn verhaftete, würde sie, Briony, vielleicht vor Gericht erscheinen und zum Beweis das Wort laut aussprechen müssen.
Widerstrebend verließ sie das Zimmer, lief über den halbdunklen, getäfelten Flur zur Treppe, blieb stehen und lauschte. Noch immer drangen Stimmen aus dem Salon – sie hörte ihre Mutter, dann Mr. Marshall und gleich darauf die Zwillinge, einen nach dem anderen. Also keine Cecilia, kein Psychopath. Briony fühlte, wie ihr Puls sich beschleunigte, als sie lustlos nach unten ging. Nichts in ihrem Leben war mehr einfach. Erst vor drei Tagen hatte sie Die Heimsuchungen Arabellas beendet und auf ihre Verwandten gewartet. Alles sollte anders sein, hatte sie sich gewünscht, und nun war alles anders: Alles war schlimmer und konnte jeden Augenblick noch schlimmer werden. Auf dem
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