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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Treppenabsatz blieb sie erneut stehen und legte sich einen Plan zurecht: Sie würde sich von ihrer launischen Kusine fernhalten, ihr nicht mal einen Blick zuwerfen – sie konnte sich weder eine Verschwörung leisten, noch wollte sie einen verheerenden Gefühlsausbruch auslösen. Und obwohl sie vorhatte, ihre Schwester zu beschützen, wagte sie sich nicht einmal in Cecilias Nähe. Robbie mußte sie schon aus Sicherheitsgründen meiden. Ihre hektische Mutter dürfte heute auch keine große Hilfe sein, also wollte sie sich an die Zwillinge halten – die beiden mußten sie retten. Sie würde in ihrer Nähe bleiben und auf sie aufpassen. Diese sommerlichen Abendessen fingen immer spät an – es war schon nach zehn –, und die Jungen würden müde sein. Außerdem wollte sie Mr. Marshall in ein Gespräch verwikkeln und ihn nach Süßigkeiten fragen – wer sie erfand, wie sie hergestellt wurden. Ein feiger Plan, gewiß, aber ein anderer fiel ihr nicht ein. Und da man jeden Augenblick das Essen auftragen würde, war dies wohl kaum der richtige Augenblick, um Wachtmeister Vockins aus dem Dorf herbeizurufen.
Sie ging die Treppe hinunter. Sie hätte Lola raten sollen, sich umzuziehen, damit man den Kratzer am Arm nicht sehen konnte, denn wenn sie darauf angesprochen wurde, brach sie bestimmt wieder in Tränen aus. Doch vermutlich hätte Briony sowieso keine Chance gehabt, Lola ein Kleid auszureden, das jede Bewegung fast unmöglich machte. Schließlich drehte sich beim Erwachsenwerden alles um das freudige Erdulden solcher Unannehmlichkeiten. Sie ließ sich selbst ja auch darauf ein. Obwohl es nicht ihr Kratzer war, fühlte sie sich ebenso dafür verantwortlich wie für alles andere, was noch geschehen konnte. Wenn ihr Vater daheim war, ordnete sich der Haushalt um eine feste Mitte. Er kümmerte sich um nichts, wanderte nicht durchs Haus, sorgte sich nicht um anderer Leute Wohlergehen und trug nur selten jemandem etwas auf – eigentlich saß er meist nur in der Bibliothek. Doch allein seine Anwesenheit sorgte für Ordnung und auch für Freiheit. Drückende Lasten wurden leichter. War er zu Hause, machte es nichts, wenn Mutter sich ins Schlafzimmer zurückzog; es reichte schon, daß er mit einem Buch im Schoß unten saß. Wenn er seinen Platz am Eßtisch einnahm, ruhig, umgänglich und überaus selbstgewiß, wurde eine Krise in der Küche zu einem lustigen Zwischenfall, der ohne ihn ein herzergreifendes Drama gewesen wäre. Er wußte fast alles, was es sich zu wissen lohnte, und wußte er es nicht, hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung davon, welche Autorität man zu Rate ziehen sollte, weshalb er mit Briony dann in die Bibliothek ging und ihr beim Suchen half. Wenn er, wie er es nannte, kein Sklave des Ministeriums und des Krisenstabs gewesen wäre, wenn er daheim wäre, Hardman den Wein holen ließe, die Unterhaltung lenkte, gleichsam beiläufig entschiede, wann sie »nach nebenan« gingen, würde sie jetzt nicht mit solch schleppenden Schritten die Halle durchqueren.
Es waren diese Gedanken an ihren Vater, die sie langsamer werden ließen, als sie an der Tür zur Bibliothek vorbeikam, die seltsamerweise nicht offenstand. Sie verharrte und lauschte: Aus der Küche das Klirren von Metall gegen Porzellan, aus dem Salon die leise Stimme ihrer Mutter und, irgendwo ganz in der Nähe, einer der Zwillinge, der mit hoher, klarer Stimme sagte: »Und es wird wohl mit ›ä‹ geschrieben«, worauf sein Bruder antwortete: »Ist mir doch egal. Steck ihn in den Umschlag.« Dann aber vernahm sie hinter der Tür zur Bibliothek ein scharrendes Geräusch, gleich darauf einen dumpfen Schlag und ein Murmeln, das ebenso von einem Mann wie von einer Frau stammen konnte. In der Erinnerung – und Briony sollte noch oft an diesen Augenblick zurückdenken – hegte sie keine besonderen Erwartungen, als sie die Hand auf den Messingknauf legte und die Tür öffnete. Doch sie hatte Robbies Brief gelesen, sie hatte sich zum Beschützer ihrer Schwester erkoren und war von ihrer Kusine belehrt worden: Was sie sah, mußte zumindest teilweise von dem geprägt gewesen sein, was sie bereits wußte oder doch zu wissen glaubte.
Als sie die Tür aufdrückte und den Raum betrat, erkannte sie im ersten Augenblick überhaupt nichts. Nur eine Tischlampe mit grünem Schirm verbreitete ein wenig Licht, das kaum mehr als das Prägeleder der Schreibtischunterlage beleuchtete. Einige Schritte weiter entdeckte Briony sie dann, dunkle Gestalten im hintersten

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