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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Winkel. Und obwohl sie sich nicht rührten, ahnte Briony sofort, daß sie einen Kampf, ein Handgemenge unterbrochen hatte. Ihr bot sich ein Anblick, der so vollständig der Verwirklichung ihrer schlimmsten Ängste glich, daß sie glaubte, ihre erhitzte Phantasie habe die Figuren auf die dicht an dicht stehenden Buchrücken projiziert. Doch die Illusion, oder vielmehr die Hoffnung auf eine ebensolche, verflog, als ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnten. Niemand regte sich. Briony starrte an Robbies Schulter vorbei in die erschreckten Augen ihrer Schwester. Er hatte sich nach dem Eindringling umgedreht, ließ Cecilia aber nicht los. Sein Körper drängte sich an sie, schob ihr das Kleid übers Knie und hielt sie in der Regalecke gefangen. Seine linke Hand lag in ihrem Nacken und griff in ihr Haar, mit der rechten hielt er ihren Unterarm fest, den sie wie aus Protest oder zur Abwehr gehoben hatte.
Er sah so groß und wild aus, und Cecilia mit ihren nackten Schultern und schlanken Armen wirkte so zart, daß Briony nicht einmal ahnte, was sie eigentlich vorhatte, als sie auf die beiden zuging. Sie wollte schreien, bekam aber kaum Luft, ihre Zunge war schwer und wie gelähmt. Robbie schob sich vor ihre Schwester. Doch dann riß Cecilia sich los, und er ließ sie laufen. Briony blieb stehen, rief ihren Namen, aber Cecilia hastete wortlos an ihr vorbei, und das Gesicht ihrer großen Schwester verriet keine Spur von Dankbarkeit oder Erleichterung. Ihre Miene wirkte eher ausdruckslos, beinahe gefaßt, und sie hielt den Blick stur auf die Tür gerichtet, durch die sie schließlich nach draußen eilte. Dann war sie fort, und Briony war allein mit ihm. Er schaute sie nicht an, drehte sich mit dem Gesicht zur Ecke, glättete sein Jackett und zog den Schlips gerade. Vorsichtig wich sie vor ihm zurück, doch traf er keine Anstalten, über sie herzufallen; er sah sich nicht einmal nach ihr um. Also machte sie kehrt und rannte aus dem Zimmer, Cecilia hinterher. Aber die Eingangshalle war leer. Briony wußte nicht, wohin Cecilia gegangen war.
Elf
    O bwohl im letzten Moment noch frisch gehackte Pfefferminze zu geschmolzener Schokolade, Eigelb, Kokosnußmilch, Rum, Gin, zerstoßener Banane und Puderzucker gegeben worden war, schmeckte der Cocktail nicht sonderlich erfrischend und raubte ihnen endgültig den Appetit, dem zuvor schon die abendliche Hitze merklich zugesetzt hatte. Fast allen Erwachsenen, die das stickige Eßzimmer betraten, wurde beinahe übel bei dem Gedanken an einen Braten, selbst kalte Bratenscheiben mit Salat waren ihnen zuviel, und gern hätten sie sich mit einem Glas kühlem Wasser begnügt. Doch Wasser gab es nur für die Kinder, dem Rest blieb nichts anderes übrig, als sich mit dem temperierten Dessertwein zu erfrischen. Drei Flaschen standen geöffnet auf dem Tisch – war Jack Tallis nicht da, wußte Betty meist eine inspirierte Wahl zu treffen. Da sich zudem keines der drei hohen Fenster öffnen ließ, deren Rahmen sich schon vor langer Zeit verzogen hatten, schlug den Gästen schon beim Eintritt ein warmes Staubaroma aus den Perserteppichen entgegen. Zum Glück hatte wenigstens der Fischhändler, der die Vorspeise, einen Krabbensalat, bringen sollte, mit seinem Wagen eine Panne gehabt.
Das Gefühl, ersticken zu müssen, wurde von der dunkel gemaserten Täfelung an Decke und Wänden ebenso verstärkt wie von dem einzigen Bild, das in diesem Zimmer hing, einem riesigen Gemälde über dem unbenutzbaren Kamin – durch einen Fehler in den Plänen des Architekten war weder an einen Rauchfang noch an einen Schornstein gedacht worden. Das Porträt im Stile Gainsboroughs zeigte vor einer vage toskanischen Landschaft eine aristokratische Familie – Eltern, zwei halbwüchsige Mädchen und ein Kind, alle dünnlippig und geisterblaß. Niemand wußte, wer diese Menschen waren, doch durfte man annehmen, daß Harry Tallis geglaubt hatte, sie würden seinem Haushalt einen Anschein von Gediegenheit verleihen.
Emily stand am Kopf der Tafel und wies den Gästen ihren Platz zu. Sie dirigierte Leon an ihre rechte Seite und Paul Marshall nach links. Rechts neben Leon sollten Briony und die Zwillinge sitzen, während links neben Marshall Cecilia saß, dann folgte Robbie, anschließend Lola. Robbie stand hinter seinem Stuhl, klammerte sich daran fest und war erstaunt, daß niemand sein pochendes Herz zu hören schien. Um den Cocktail hatte er sich drücken können, doch hungrig war er deshalb trotzdem nicht. Er mied Cecilias

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