McEwan Ian
Blick, wandte sich ein wenig von ihr ab und stellte mit Erleichterung fest, daß sein Platz bei den Kindern war.
Auf ein Kopfnicken seiner Mutter hin murmelte Leon ein kurzes, halbherziges Dankgebet – und segne, was du uns bescheret hast – ; und die Stühle scharrten dazu ihr Amen. Die nun folgende Stille, in der sie sich setzten und ihre Servietten auffalteten, während Betty mit dem Fleisch um den Tisch ging, wäre von Jack Tallis, der irgendein Thema von geringem Allgemeininteresse angeschnitten hätte, mühelos überbrückt worden. So aber sahen und hörten die Essensgäste zu, wie Emily Tallis sich an jedem Platz murmelnd vorbeugte und mit dem Servierbesteck über die Silberplatte schabte. Worauf sollten sie ihr Augenmerk auch sonst richten, wenn es in diesem Zimmer außer ihnen doch nur ihr eigenes Schweigen gab? Emily Tallis hatte die Kunst des belanglosen Geplauders noch nie beherrscht, was ihr auch weiter nichts ausmachte. Leon rekelte sich auf seinem Stuhl, vollkommen zufrieden mit sich und der Welt, hielt die Weinflasche in der Hand und studierte ihr Etikett. Cecilia weilte in Gedanken bei dem, was vor knapp zehn Minuten geschehen war, und wäre zu keinem vernünftigen Satz fähig gewesen. Robbie, der sich hier zu Hause fühlte, hätte durchaus ein Gespräch anfangen können, war aber selbst auch noch viel zu aufgewühlt. Außerdem hatte er vollauf damit zu tun, Cecilias nackten Arm an seiner Seite – diese Wärme, die von ihm ausging – zu ignorieren, ebenso wie den feindseligen Blick, mit dem ihn die schräg gegenübersitzende Briony bedachte. Und selbst wenn man es schicklich gefunden hätte, daß Kinder ein Thema aufbrachten, wären sie dazu nicht in der Lage gewesen: Briony konnte nur an das denken, was sie mit angesehen hatte, Lola litt unter dem Schock eines tätlichen Angriffs und unter einer Vielzahl widersprüchlicher Gefühle, und die Zwillinge heckten mit Inbrunst irgendeinen Plan aus. Es war Paul Marshall, der mehr als drei Minuten eines erstikkenden Schweigens beendete. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sprach hinter Cecilias Kopf zu Robbie: »Bleibt es beim Tennis morgen?«
Robbie fiel ein fünf Zentimeter langer Kratzer auf, der sich von Marshalls Augenwinkel parallel zur Nase herabzog und damit erst recht betonte, wie sehr seine Züge nach oben drängten, sich gleichsam unter den Augen zusammenballten. Nur Bruchteile eines Zentimeters bewahrten ihn davor, wie ein attraktiver Widerling auszusehen, so aber wirkte er nur albern – die leere Kinnfläche stand im heftigen Widerspruch zur zerfurchten, überbetonten Stirn. Robbie mußte ebenfalls auf seinem Stuhl nach hinten rutschen, damit er hören konnte, was Marshall sagte, doch selbst in seiner jetzigen Verfassung zuckte er unwillkürlich zusammen. Wie ungehörig, sich gleich zu Beginn des Abendessens von der Gastgeberin abzuwenden und ein Zwiegespräch zu beginnen.
Robbie erwiderte knapp: »Ich denke schon«, und warf dann, gleichsam als Wiedergutmachung, in die allgemeine Runde: »Ist es in England je so heiß gewesen wie heute?«
Da er von Cecilias Körperwärme abrückte und gleichzeitig Brionys Blick auszuweichen versuchte, sah er sich die letzten Silben dieser Frage in das erschrockene Gesicht von Pierrot richten, der ihm links schräg gegenübersaß. Der Junge starrte ihn mit offenem Mund an und gab sich alle erdenkliche Mühe, als versuchte er, eine Frage im Geschichtsunterricht zu verstehen. Oder ging es um Erdkunde? Um Physik?
Briony beugte sich über Jackson hinweg zu Pierrot vor, faßte ihn an die Schulter und ließ Robbie dabei nicht aus den Augen. »Laß ihn in Ruhe«, zischte sie und sagte dem kleinen Jungen dann leise: »Du brauchst ihm nicht zu antworten.«
Emily meldete sich vom anderen Tischende. »Das war eine völlig harmlose Bemerkung über das Wetter, Briony. Entweder du entschuldigst dich jetzt sofort, oder du gehst auf dein Zimmer.«
Wenn Mrs. Tallis in Abwesenheit ihres Mannes Autorität auszuüben versuchte, bemühten sich ihre Kinder nach Kräften, den Eindruck aufrechtzuerhalten, daß ihr dies auch gelang. Briony, die ihre Schwester jetzt nicht im Stich lassen wollte, senkte also den Kopf und sprach zum Tischtuch: »Tut mir leid. Ich hätte es lieber nicht sagen sollen.«
Das Gemüse wurde in Schüsseln oder auf Servierplatten aus mattem Spode-Porzellan gereicht, doch war man so abgelenkt oder auch so höflich darauf bedacht, den fehlenden Appetit zu verbergen, daß schließlich auf den meisten
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