McEwan Ian
Tellern neben den Bratkartoffeln der Kartoffelsalat lag und beim Rosenkohl die Rote Bete, während der Salat in Bratensoße schwamm. »Das wird dem Alten gar nicht gefallen«, sagte Leon und stand auf. »Ein 21 er Barsac, aber was soll’s, die Flasche ist nun mal geöffnet.« Er schenkte seiner Mutter ein Glas ein, dann seiner Schwester und Paul Marshall, und als er vor Robbie stand, sagte er: »Ein Heiltrunk für den lieben Doktor. Du mußt mir unbedingt mehr von deinen Plänen erzählen.«
Doch wartete er keine Antwort ab und sagte, während er wieder Platz nahm: »Ich liebe diese Affenhitze. Sie macht England zu einem anderen Land. Sämtliche Regeln ändern sich.« »Unsinn«, sagte Paul Marshall. »Nenne mir auch nur eine Regel, die sich ändert.«
»Nun gut. Der einzige Raum, in dem man im Klub das Jackett ausziehen darf, ist das Billardzimmer. Steigt das Thermometer aber vor drei Uhr nachmittags auf zweiunddreißig Grad, darf man sein Jackett am nächsten Tag auch in der oberen Bar ausziehen.«
»Am nächsten Tag! Also wirklich, ein anderes Land!« »Du weißt genau, was ich meine. Die Leute sind lockerer – ein paar Tage Sonne, und wir werden die reinsten Italiener. Letzte Woche habe ich sogar gesehen, wie man in der Charlotte Street die Tische auf den Bürgersteig gestellt und draußen gegessen hat.«
»Meine Eltern waren stets der Ansicht«, sagte Emily, »daß warmes Wetter bei jungen Menschen eine lose Moral fördere. Spärliche Kleidung, dafür tausend neue Orte, an denen man sich treffen kann. Aus dem Haus, aus dem Blick. Vor allem deine Großmutter hatte was gegen den Sommer. Sie hatte stets eine Vielzahl von Gründen parat, warum meine Schwestern und ich im Haus bleiben mußten.«
»Na schön«, erwiderte Leon. »Was meinst du, Cee? Warst du heute etwa unanständiger als sonst?«
Alle schauten zu ihr hinüber, der brüderliche Spott war erbarmungslos.
»Gütiger Himmel, du wirst ja rot! Also lautet die Antwort ja.« Da er meinte, für sie einspringen zu müssen, sagte Robbie: »Eigentlich-«
Doch Cecilia unterbrach ihn. »Mir ist schrecklich heiß, das ist alles. Und die Antwort lautet tatsächlich ja. Ich habe mich wirklich sehr unanständig benommen. Ich habe nämlich Emily trotz der Hitze und gegen ihren Willen dazu überredet, daß es dir zu Ehren heute abend Braten gibt. Und jetzt begnügst du dich mit Salat, während wir alle deinetwegen leiden. Also reich ihm das Gemüse, Briony, damit er für eine Weile den Mund hält.« Robbie meinte, ein Beben in ihrer Stimme zu hören. »Die gute alte Cee. Heute in Bestform, wie?« sagte Leon. Und Marshall sagte: »Geschieht dir ganz recht.«
»Sieht so aus, als sollte ich mich lieber mit Kleineren anlegen.« Leon lächelte die neben ihm sitzende Briony an. »Hat dich denn wenigstens die Hitze dazu gebracht, dich schlimmer als gewöhnlich zu benehmen? Hast du irgendwelche Regeln gebrochen? Bitte, sag ja.« Mit übertriebener Geste griff er nach ihrer Hand, aber Briony entzog sie ihm.
Sie war noch ein Kind, dachte Robbie, und ihr war durchaus zuzutrauen, daß sie gestand, seine Nachricht gelesen zu haben, daß sie einfach damit herausplatzte, was wiederum dazu führen mochte, daß sie beschrieb, was sie in der Bibliothek gesehen hatte. Er beobachtete Briony genau, während sie Zeit zu gewinnen suchte, indem sie ihre Serviette nahm und sich die Lippen abtupfte, fühlte sich aber eigentlich nicht bedroht. Was geschah, würde geschehen. Und wenn es noch so fürchterlich werden sollte, konnte das Essen doch nicht ewig dauern; er wollte schon eine Möglichkeit finden, wie er Cecilia heute abend noch sehen konnte. Gemeinsam würden sie sich dann dieser neuen, außerordentlichen Tatsache in ihrer beider Leben stellen – ihren veränderten Leben – und dort fortfahren, wo sie aufgehört hatten. Bei diesem Gedanken rutschte ihm das Herz in die Hose. Bisher war alles bloß unbedeutend und schattenhaft gewesen, und er brauchte nichts zu fürchten. Er nahm einen kräftigen Schluck vom süßlichen, lauwarmen Wein und wartete. Briony sagte: »Es ist langweilig, ich weiß, aber ich habe heute nichts Schlimmes getan.«
Er hatte sie unterschätzt. Diese Betonung konnte nur auf ihn und ihre Schwester zielen.
Der neben ihr sitzende Jackson meldete sich zu Wort: »O doch, hast du wohl. Du hast dafür gesorgt, daß es kein Theater gibt. Dabei wollten wir mitspielen.« Der Junge blickte sich am Tisch um, die grünen Augen glitzerten vor Kummer. »Und du hast selbst gesagt,
Weitere Kostenlose Bücher