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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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sich vorgestellt hatte. Sie trug ein Seidenkleid, das jede
Kurve, jede Linie ihres geschmeidigen Körpers zu liebkosen schien, doch die schmalen, sinnlichen Lippen waren mißbilligend, vielleicht sogar angewidert zusammengepreßt. Ihren genauen Gesichtsausdruck konnte er nicht erkennen, das Licht in ihrem Rücken blendete ihn.
»Es war ein Versehen, Cee«, brachte er schließlich hervor. »Ein Versehen?«
Durch die offene Salontür drangen Stimmen in die Eingangshalle. Er konnte Leon hören, dann Marshall. Wohl aus Angst, sie könnten unterbrochen werden, wich sie zurück und gab die Tür frei, jedenfalls folgte er ihr durch die Halle in die dunkle Bibliothek und wartete an der Tür, während sie nach dem Schalter der Tischlampe suchte. Sobald das Licht anging, drückte er die Tür hinter sich zu. Bestimmt würde er in wenigen Augenblicken durch den Park zurück nach Hause gehen müssen.
»Das war nicht der Brief, den ich abschicken wollte.« »Nein.«
»Ich habe den falschen in den Umschlag gesteckt.« »Ja.«
Ihren knappen Antworten konnte er nichts entnehmen, und auch ihre Miene konnte er noch immer nicht deutlich erkennen. Sie trat aus dem Lichtkreis, strich die Regale entlang, und er drang weiter ins Zimmer vor, folgte ihr zwar nicht direkt, mochte sie aber auch nicht aus seiner unmittelbaren Nähe lassen. Wenn sie gewollt hätte, dann hätte sie ihn schon an der Tür abfertigen können, doch nun bot sich wenigstens die Gelegenheit, ihr eine Erklärung zu geben, bevor er ging.
Sie sagte: »Briony hat ihn gelesen.«
»Herrje, das tut mir leid.«
Gerade hatte er einen entrückten Augenblick des Überschwangs heraufbeschwören wollen, eine flüchtige Ungeduld mit allen Konventionen, eine Erinnerung an die Lektüre von Lady Chatterley’s Lover, den Roman in der Orioli-Edition, die er in Soho unterm Ladentisch gekauft hatte. Doch dieses neue Element – das unschuldige Kind – machte sein Vergehen unverzeihlich. Jetzt weiterzureden wäre ordinär gewesen. Er konnte sich nur wiederholen, diesmal im Flüsterton. »Es tut mir leid…«
Sie rückte weiter von ihm ab, bewegte sich auf die Ecke, den dunkleren Schatten zu. Und obwohl er glaubte, daß sie vor ihm zurückwich, machte er noch einige Schritte in ihre Richtung. »Eine dumme Sache. Du solltest den Brief nie zu Gesicht bekommen. Kein Mensch sollte ihn lesen.«
Sie drang immer weiter vor. Ein Ellbogen streifte die Regale, sie schien daran entlangzugleiten, fast, als wollte sie zwischen den Büchern verschwinden. Dann hörte er einen leisen, feuchten Laut, wie er entsteht, wenn man zum Reden ansetzt und die Zunge sich vom Gaumen löst. Doch sie sagte kein Wort. Erst jetzt kam ihm der Gedanke, daß sie vielleicht gar nicht vor ihm zurückwich, sondern ihn immer tiefer ins Dunkle lockte. Seit er auf die Klingel gedrückt hatte, gab es für ihn nichts mehr zu verlieren. Also folgte er ihr langsam, während sie davonglitt, bis sie schließlich in einer Ecke stehenblieb und zusah, wie er langsam näher kam. Jetzt blieb er ebenfalls stehen, kaum vier Schritte von ihr entfernt. Er war nahe genug, und das Licht reichte gerade aus, um zu erkennen, daß sie den Tränen nahe war und zu reden versuchte. Doch noch war sie dazu nicht fähig und schüttelte nur den Kopf, als wollte sie andeuten, daß er noch warten müsse. Dann wandte sie sich ab und legte die Handflächen zusammen, umschloß Nase und Mund und preßte die Finger in die Augenwinkel.
Als sie sich wieder in der Gewalt hatte, sagte sie: »Das geht seit Wochen so…« Etwas schnürte ihr die Kehle zu, und sie mußte einen Augenblick innehalten. Er ahnte gleich, was sie meinte, schob den Gedanken aber wieder beiseite. Sie holte tief Luft und fuhr dann etwas nachdenklicher fort: »Vielleicht auch schon seit Monaten. Ich weiß nicht. Aber heute… der ganze Tag war so seltsam. Ich meine, es war seltsam, wie ich die Dinge wahrgenommen habe, fast wie zum ersten Mal. Alles sah so anders aus – viel zu scharf, zu real. Sogar meine eigenen Hände kamen mir anders vor. Und dann wieder meine ich, Ereignisse wahrzunehmen, als wären sie bereits vor langer Zeit passiert. Den ganzen Tag bin ich schon wütend auf dich – und auf mich selbst. Ich dachte, ich wäre erst richtig glücklich, wenn ich dich nie wiederzusehen brauchte, wenn ich nie wieder mit dir reden müßte. Ich dachte, du ziehst fort, um Medizin zu studieren, und ich bin glücklich. Ich war so wütend auf dich. Dabei war das wohl nur meine Art, nicht an dich denken

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