Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
Vom Netzwerk:
daß wir mitmachen dürfen.«
Sein Bruder nickte. »Ja genau, das hast du.« Niemand vermochte das Ausmaß ihrer Enttäuschung zu ermessen. »Da habt ihr’s«, sagte Leon. »Die hitzköpfige Briony. Wäre es kühler gewesen, würden wir jetzt in der Bibliothek sitzen und Theaterkunst genießen.«
    Dieses harmlose Geschwätz, das jedem Schweigen vorzuziehen war, gestattete es Robbie, sich hinter einer Maske amüsierten Interesses zu verbergen. Cecilias gewölbte linke Hand lag an ihrer Wange, als wollte sie ihn aus ihrem Blickfeld verbannen. Und indem er vorgab, Leon zuzuhören, der gerade davon erzählte, wie er in einem Theater im West End einen flüchtigen Blick auf den König erhascht hatte, konnte er in aller Ruhe ihren bloßen Arm und ihre Schulter betrachten und sich dabei dem erregenden Gedanken hingeben, daß sie seinen Atem auf ihrer Haut spürte. Oben auf der bloßen Schulter entdeckte er ein an den Knochen geschmiegtes oder vielmehr zwischen zwei Knochen nistendes, von feinem Flaum umschattetes Grübchen. Bald, sehr bald würde seine Zunge über diesen ovalen Rand fahren und in die Senke vordringen. Seine Erregung grenzte an Schmerz und wurde durch die vielen Widersprüche noch verstärkt: Sie war vertraut wie eine Schwester und doch so exotisch wie eine Geliebte; er hatte sie immer schon gekannt, er wußte nichts über sie; sie war unscheinbar, sie war schön; sie war selbstsicher – wie geschickt hatte sie sich vor ihrem Bruder geschützt –, und noch vor zwanzig Minuten hatte sie geweint; sein blöder Brief widerte sie an, und doch hatte sie sich durch ihn geöffnet. Er bedauerte den Brief, und er jubelte über seine Missetat. Bald würden sie zusammen sein, allein und mit neuen Widersprüchen – Übermut und Sinnlichkeit, Verlangen und Angst vor der eigenen Courage, Scheu und Ungeduld. In einem ungenutzten Zimmer irgendwo oben im zweiten Stock oder fort vom Haus, draußen, unter den Bäumen am Fluß. Wo? Die Mutter von Mrs. Tallis war keine Närrin gewesen: Draußen. Sie würden sich in die samtweiche Dunkelheit hüllen und erneut beginnen. Und das war kein Tagtraum, es war real, so würde seine nahe Zukunft sein, herbeigesehnt und unausweichlich. Doch genau das hatte in irriger Selbstgewißheit der elende Malvolio auch gedacht, den er einst auf dem College-Rasen gespielt hatte: »Es kann nichts geben, was sich zwischen mich und die weite Aussicht meiner Hoffnungen stellen könnte.« Noch vor einer halben Stunde hatte überhaupt keine Hoffnung mehr bestanden. Nachdem Briony mit seinem Brief im Haus verschwunden war, hatte er sich verzweifelt gefragt, ob er wieder umkehren sollte, und war doch weitergegangen. Selbst als er vor der Haustür stand, war er noch zu keinem Entschluß gekommen, weshalb er sich minutenlang unter der von einer beharrlichen Motte umschwirrten Terrassenlampe herumdrückte und versuchte, sich für die weniger unerfreuliche der beiden verhängnisvollen Möglichkeiten zu entscheiden: Jetzt hineingehen und sich ihrer Abscheu und ihrer Wut stellen, eine Erklärung abgeben, die sie nicht akzeptieren würde, und vermutlich von ihr fortgeschickt werden – eine unerträgliche Demütigung; oder ohne ein Wort nach Hause gehen und den Eindruck hinterlassen, daß der Brief in voller Absicht geschickt worden sei, um sich dann die ganze Nacht zu quälen und tagelang über das Vorgefallene zu brüten und nicht zu wissen, wie sie reagiert hatte – noch unerträglicher. Und feige. Er überdachte erneut seine Wahl und kam zum selben Ergebnis. Ihm blieb kein anderer Ausweg, er mußte mit ihr reden. Also legte er die Hand auf den Klingelknopf. Trotzdem, der Gedanke, einfach zu gehen, war zu verlockend. Er konnte ihr aus seinem sicheren Schreibzimmer eine Entschuldigung schicken. Memme! Die Spitze seines Zeigefingers berührte das kühle Porzellan. Ehe das Für und Wider aufs neue einsetzen konnte, zwang er sich, den Knopf zu drücken. Er wich einen Schritt von der Tür zurück und fühlte sich wie jemand, der gerade eine Selbstmordpille geschluckt hatte – ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Dann hörte er ein Geräusch in der Eingangshalle, kurze weibliche Schritte näherten sich.
    Als sie die Tür aufmachte, hielt sie seinen gefalteten Brief in der Hand. Sekundenlang starrten sie sich nur an und sagten kein Wort, denn trotz seines langen Zauderns hatte er sich nicht überlegt, was er eigentlich sagen wollte. Sein einziger Gedanke war, daß er sie noch schöner fand, als er sie

Weitere Kostenlose Bücher