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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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mit fünfzig zu multiplizieren. Für jede abgeworfene Tonne Sprengstoff kalkuliere man fünfzig Opfer. Bei hunderttausend Tonnen abgeworfener Bomben innerhalb von zwei Wochen ergebe das fünf Millionen Tote. Sie hatte ihn noch nicht geweckt, das leise Pfeifen seines Atems vermischte sich mit winterlichem Vogelgesang, der über den Rasen ins Zimmer drang. Wässeriges Sonnenlicht rieselte über Bücherrücken, der Geruch nach warmem Staub war allgegenwärtig. Sie trat ans Fenster und starrte hinaus, versuchte, den Vogel zwischen den kahlen Ästen der Eiche auszumachen, die sich schwarz vor einem unruhigen, in graue und bläßlich blaue Farben getauchten Himmel abhob. Sie wußte sehr wohl, daß es solche Formulare mit bürokratischen Beispielrechnungen geben mußte. Und natürlich handelte es sich dabei nur um die Vorsichtsmaßnahmen von Verwaltungsangestellten, die sich gegen alle Eventualitäten absichern wollten. Zudem waren diese enorm hohen Zahlen doch gewiß nur eine Form von Selbstüberschätzung und derart hanebüchen, daß sie schon unverantwortlich genannt werden mußten. Schließlich war Verlaß darauf, daß Jack, der Beschützer der Familie, der Garant für Ruhe und Ordnung, stets mit Weitblick handelte. Also war es sicher nur dummes Zeug. Als sie ihn weckte, grunzte er, beugte sich vor, schloß abrupt die Akten und zog, immer noch sitzend, ihre Hand an seinen Mund, um einen trockenen Kuß darauf zu drücken.
Sie beschloß, die Terrassentür offenzulassen, setzte sich in eine Ecke des Chesterfield-Sofas und merkte, daß sie genaugenommen gar nicht wartete. Niemand, den sie kannte, konnte so tatenlos verharren wie sie, ohne auch nur ein
Buch im Schoß zu halten, konnte so sacht durch die eigenen Gedanken schlendern, als gelte es, einen unbekannten Garten zu erkunden. Jahrelanges Ausweichen vor der Migräne hatte sie diese Geduld gelehrt. Sich Sorgen machen, angespanntes Nachdenken, Lesen, Schauen, Wünschen – all das galt es zu vermeiden und die Gedanken gemächlich treiben zu lassen, während die Minuten sich wie Schneeflocken aufhäufelten und die Stille um sie herum immer tiefer wurde. Wie sie so dasaß, spürte sie den Abendwind, der sie mit dem Saum ihres Kleides am Schienbein kitzelte. Ihre Kindheit war so fühlbar nah wie die Changeant-Seide – ein Geschmack, ein Laut, ein Geruch, alles zusammen ein Ganzes, das einfach mehr als eine bloße Stimmung sein mußte. Da saß jemand in diesem Raum, ihr trauriges, immerzu übersehenes, zehnjähriges Ich, ein Mädchen, noch stiller als Briony, das sich über die ungeheure Leere der Zeit wunderte und erstaunt erfuhr, daß sich das neunzehnte Jahrhundert seinem Ende zuneigte. Wie typisch für sie, so in diesem Zimmer zu sitzen, nicht bei den anderen zu sein. Dieses Gespenst war nicht von Lola heraufbeschworen worden, weil sie Hermione glich, auch nicht von den undurchschaubaren Zwillingen, die in die Nacht hinausgelaufen waren. Das hatte vielmehr Brionys allmähliche Abkehr getan, der Rückzug in die Autonomie, der das nahende Ende der Kindheit ihrer Tochter ankündigte. Wieder einmal sah sich Emily damit konfrontiert. Briony war ihre Jüngste, die letzte, und zwischen dem Jetzt und dem Grab würde nichts mehr solch elementare Bedeutung haben, nichts mehr so angenehm sein wie die Sorge um ein Kind. Sie war keine Närrin. Sie wußte, es war Selbstmitleid, dem sie da nachgab, wenn sie sich ihren eigenen Untergang ausmalte: Bestimmt würde Briony wie ihre Schwester aufs Girton College gehen, und sie, Emily, würde allmählich steif und mit jedem Tag bedeutungsloser werden; Alter und Erschöpfung würden ihr Jack zurückbringen, und nichts würde gesagt werden, nichts gesagt werden müssen. Da hockte das Gespenst ihrer Kindheit allgegenwärtig im Raum, um sie an den kurzen Bogen des menschlichen Daseins zu erinnern. Wie rasch die Geschichte doch vorüber war. Weder gewaltig noch nichtssagend, bloß ungestüm. Und unbarmherzig.
Doch diese simplen Wahrheiten konnten ihre Stimmung nicht trüben. Sie glitt darüber hinweg, schaute gleichmütig auf sie hinab und verflocht sie gedankenverloren mit anderen Erwägungen. Sie hatte vor, am Weg zum Schwimmbecken einige Seckelblumen zu pflanzen. Außerdem wollte Robbie unbedingt eine Pergola bauen und eine langsam wachsende Glyzinie daran emporranken lassen, da er deren Blüte und Geruch so gern hatte. Doch sie und Jack würden längst begraben sein, bevor deren Wirkung voll zur Geltung kam. Die Geschichte wäre zu Ende. Sie

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