Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
Vom Netzwerk:
zusammengestellt worden war, dürfte eine Stunde vergangen sein, und die Zwillinge wären längst von allein zurück, völlig verstört und zur Vernunft gebracht von den beängstigenden Ausmaßen der Welt bei Nacht. Eigentlich sann sie auch gar nicht über die Jungen nach, sondern über deren Mutter, ihre Schwester, vielmehr über deren Wiedergeburt in Lolas drahtiger Gestalt. Als Emily vom Tisch aufgestanden war, um das Mädchen zu trösten, hatte es sie selbst überrascht, wie sehr sie sich innerlich dagegen sträubte. Und je stärker ihr Widerwille wurde, desto nachdrücklicher hatte sie Lola bemuttert, um dieses Gefühl zu überspielen. Der Kratzer in Lolas Gesicht war schließlich nicht zu übersehen, die blauen Flecke auf ihrem Arm ziemlich schockierend, vor allem, weil die kleinen Jungen daran schuld waren, doch ein alter Widerstreit machte Emily zu schaffen. Es war ihre Schwester Hermione, die sie da trösten sollte, Hermione, diese Diebin der Aufmerksamkeit, die Diva der Verstellungskunst, sie war es, die sie an ihre Brust drückte. Und je stärker es in Emily brodelte, desto fürsorglicher wurde sie, das war schon immer so gewesen. Als dann die arme Briony den Brief der Jungen fand, war es ebendieser alte Widerstreit, der dafür sorgte, daß Emily sie mit ungewohnter Schärfe anfuhr. Wie ungerecht von ihr! Doch die Vorstellung, daß ihre Tochter oder sonst irgendein weibliches Wesen, das jünger war als sie selbst, diesen Brief öffnen und die Spannung auskosten könnte, indem sie ihn ein klein wenig zu langsam aufriß, daß sie ihn laut der versammelten Gesellschaft vorlas, die Neuigkeit verkündete und sich selbst in den Mittelpunkt rückte, weckte alte Erinnerungen und kleinliche Gedanken.
Hermione hatte sich durch ihre Kindheit gelispelt, getänzelt und geprahlt und sich bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit aufgeblasen, ohne auch nur eine Sekunde – das jedenfalls glaubte ihre verärgerte, stillschweigende ältere Schwester – daran zu denken, wie albern und absurd sie wirkte. Erwachsene, die sie zu dieser pausenlosen Koketterie ermunterten, gab es zur Genüge. Selbst an jenem denkwürdigen Tag, als die elfjährige Emily einen ganzen Saal schockierte, indem sie gegen eine Terrassentür lief und sich dabei so übel an der Hand verletzte, daß ihr Blut ein scharlachrotes Bukett auf das weiße Musselinkleid des Kindes neben ihr spritzte – auch da war es die neunjährige Hermione gewesen, die sich mit einem Schreikrampf ins Rampenlicht zu rücken wußte. Während Emily fast vergessen im Schatten eines Sofas auf dem Boden lag und ein Onkel mit einiger medizinischer Erfahrung ihr sachkundig einen Druckverband anlegte, gaben sich etwa ein Dutzend Verwandte alle Mühe, Emilys Schwester zu beruhigen. Und die scharwenzelte jetzt in Paris mit einem Radiofritzen herum, während sie, Emily, sich um die Kinder kümmern mußte. Plus ça change hätte Wachtmeister Vockins dazu vermutlich nur gesagt.
Lola ließ sich ebensowenig bändigen wie ihre Mutter. Kaum war der Brief vorgelesen worden, überbot sie die entlaufenen Brüder mit ihrem eigenen dramatischen Abgang. Mummy bringt mich um, ach ja? Dabei war sie selbst doch diejenige, die den Geist ihrer Mummy lebendig hielt. Jede Wette, dachte Emily, daß man Lola noch suchen mußte, wenn die Zwillinge längst wieder da waren. Die eisernen Grundsätze von Lolas Selbstverliebtheit würden schon dafür sorgen, daß sie so lange dort in der Dunkelheit blieb und sich an ihrem vermeintlichen Unglück weidete, bis alle Welt erleichtert alle Aufmerksamkeit auf sie richtete, wenn sie schließlich wieder auftauchte. Ohne sich von ihrer Bettcouch zu rühren, hatte Emily am Nachmittag erraten, daß Lola Brionys Theaterstück hintertrieb, ein Verdacht, den das zerrissene Plakat auf der Staffelei erhärtete. Und ganz wie sie vermutet hatte, war Briony nach draußen geflohen, eingeschnappt und unauffindbar. Wie sehr Lola doch Hermione darin ähnelte, daß sie ihre Hände in Unschuld wusch, während andere sich auf ihr Betreiben hin selbst vernichteten.
Emily stand unentschlossen in der Eingangshalle, konnte sich für kein Zimmer entscheiden, lauschte auf die Stimmen der Suchtrupps und bemerkte erleichtert – wie sie sich eingestehen mußte –, daß sie keinen Ton hören konnte. Ein Drama um nichts und wieder nichts veranstalteten diese fortgelaufenen Jungen. Wieder einmal wurde ihr Hermiones Leben auf gezwungen. Es gab keinen Anlaß, sich um die Zwillinge zu sorgen. Sie würden

Weitere Kostenlose Bücher