McEwan Ian
dachte daran, wie ihr beim Abendessen etwas Glasiges, Irres in Robbies Blick aufgefallen war. Ob er dieses merkwürdige Kraut rauchte, von dem sie in einer Zeitschrift gelesen hatte, diese Zigaretten, die junge Männer mit einem Hang zur Boheme die Grenzen zum Wahn überschreiten ließ? Sie mochte den Jungen und freute sich für Grace Turner, daß so ein intelligenter Bursche aus ihm geworden war. Doch eigentlich war er eher Jacks Spielzeug, der lebende Beweis für irgendein gleichmacherisches Prinzip, das er über die Jahre verfolgt hatte. Wenn er über Robbie sprach, was nicht sehr oft geschah, dann stets mit einem Hauch selbstgerechter Genugtuung. Irgendwas war bewiesen worden, etwas, das als Kritik an Emily gemeint war. Sie hatte sich dagegen ausgesprochen, als Jack vorschlug, dem Jungen die Schule zu bezahlen, da sie fand, es schmecke nach Einmischung und sei Leon und den Mädchen gegenüber ungerecht. Sie sah sich auch nicht widerlegt, bloß weil Robbie sein Studium in Cambridge mit Auszeichnung bestand. Eigentlich hatte er es damit für Cecilia mit ihrer Drei nur noch schwerer gemacht, doch war es einfach absurd, wenn ihre Tochter deswegen die Enttäuschte spielte. Robbies Aufstieg. »Das kann nicht gutgehen« lautete die Redensart, die sie oft vorbrachte, woraufhin Jack stets selbstgefällig antwortete, daß davon bislang wenig zu merken sei. Nichtsdestotrotz war es höchst unangemessen gewesen, wie Briony am Tisch mit Robbie geredet hatte. Emily könnte es durchaus verstehen, wenn sie Vorbehalte gegen ihn haben sollte. Das wäre nicht weiter verwunderlich. Doch sie in Worte zu fassen, das war schlichtweg ungehörig. Wie geschickt dieser Mr. Marshall alle wieder beruhigt hatte. Ob er in Frage kam? Nur schade, daß er nicht besser aussah, seine eine Gesichtshälfte glich einem vollgestopften Schlafzimmer. Vielleicht würde sie mit der Zeit ja ein wenig eckiger wirken, das Kinn einer Käsekante gleichen. Oder einem Stück Schokolade. Falls er wirklich die ganze britische Armee mit Amo-Riegeln belieferte, könnte er außerdem ungeheuer reich werden. Doch Cecilia, die in Cambridge diesem modischen Snobismus verfallen war, hielt einen Menschen mit einem Abschluß in Chemie für ein unvollkommenes menschliches Wesen. Ihre eigenen Worte. Drei Jahre lang auf dem College herumlümmeln und Bücher lesen, die sie ebensogut hätte zu Hause lesen können -Jane Austen, Dickens, Conrad, sie alle standen unten in der Bibliothek in vollständigen Gesamtausgaben. Wie war sie bloß darauf verfallen, daß diese Beschäftigung – Bücher zu lesen, die man gemeinhin doch nur zum Vergnügen las – sie anderen überlegen machte? Selbst ein Chemiker konnte von Nutzen sein. Vor allem dann, wenn er eine Möglichkeit entdeckt hatte, Schokolade aus Zucker, Chemikalien, braunem Farbstoff und Pflanzenöl herzustellen. Ganz ohne Kakaobutter. Eine Tonne von dem Zeugs zu produzieren, hatte er über seinem erstaunlichen Cocktail erklärt, koste so gut wie gar nichts. Er konnte seine Konkurrenten unterbieten und seine Gewinnspanne erhöhen. Vulgär gesprochen, doch welcher Luxus, wie viele ungetrübte Jahre ließen sich aus diesen billigen Bottichen schöpfen.
Unbemerkt verstrich mehr als eine halbe Stunde, in der sich diese Bruchstücke – Erinnerungen, Urteile, vage Entschlüsse und Fragen – still vor ihr ausbreiteten, während sie selbst kaum ihre Stellung änderte und auch nicht hörte, wie die Uhr die Viertelstunden schlug. Sie spürte, wie der Wind kräftiger wurde, einen Flügel der Terrassentür zuwarf und wie er dann wieder abflaute. Später störte Betty sie mit ihren Küchengehilfen, die im Speisesaal abräumten, doch erstarben diese Geräusche bald wieder, und Emily begab sich erneut hinaus ins weitverzweigte Wegenetz ihrer Träumereien, ließ sich von ihren Assoziationen treiben und vermied mit der Erfahrung Tausender Kopfschmerzattacken alle verstörenden und allzu groben Gedanken. Als dann schließlich das Telefon klingelte, schreckte sie keineswegs zusammen, stand bloß sofort auf, nahm den Hörer ab und rief, wie sie es immer tat, mit ansteigendem, leicht fragendem Ton: »Hier Tallis?«
Erst kam die Vermittlung, der näselnde Assistent, eine Pause, das Rauschen der Fernverbindung und dann Jacks gleichmütige Stimme: »Es ist ein wenig später geworden, Liebling. Tut mir schrecklich leid.«
Es war halb zwölf, doch das kümmerte sie nicht, denn er würde zum Wochenende kommen, und eines Tages würde er für immer daheim
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