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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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schon nicht hinunter an den Fluß gehen, und wenn sie es leid waren, kamen sie bestimmt ins Haus zurück. Emily stand da, umgeben von den starken Mauern einer Stille, die ihr in den Ohren summte und nach eigenem Rhythmus mal lauter und mal leiser wurde. Sie nahm die Hand vom Telefon, massierte sich die Stirn – von der Migräne, diesem Biest, war Gott sei Dank nichts zu spüren – und ging in den Salon. Es gab noch einen Grund, Wachtmeister Vockins vorläufig nicht anzurufen: Jack würde sich bald melden und seine Entschuldigungen vorbringen wollen. Der Anruf wurde stets vom Telefonisten des Ministeriums durchgestellt, dann hörte sie den jungen Assistenten mit seiner näselnden, seltsam wiehernden Stimme und schließlich ihren Mann selbst, der an seinem Schreibtisch saß und dessen Worte in dem riesigen Raum mit der Kassettendekke widerhallten. Sie zweifelte nicht daran, daß er Überstunden machte, doch wußte sie auch, daß er nicht im Klub übernachtete, und er wußte, daß sie dies wußte, dennoch verloren sie kein Wort darüber. Sie ähnelten einander in ihrer Angst vor Auseinandersetzungen, und die regelmäßigen, abendlichen Anrufe waren, auch wenn Emily ihm kein Wort glaubte, für beide ein Trost. Selbst wenn es sich bei diesem kleinen Schauspiel um gewöhnliche Heuchelei handelte, mußte Emily zugeben, daß sie ihren Zweck erfüllte. Es gab in ihrem Leben so manchen Anlaß zur Zufriedenheit – das Haus, den Park und vor allem ihre Kinder –, und daran wollte sie nichts ändern, indem sie Jack zur Rede stellte. Außerdem vermißte sie nicht so sehr seine Anwesenheit als vielmehr seine Stimme am Telefon. Immerzu belegen zu werden war zwar nicht gerade Liebe, verriet aber doch nachhaltige Anteilnahme; sie mußte ihm schließlich etwas bedeuten, wenn er ihr über einen so langen Zeitraum hinweg derart ausgeklügelte Ausreden vorsetzte. Seine Schwindeleien waren eine Art Tribut an die Bedeutsamkeit ihrer Ehe.
Betrogenes Kind, betrogene Frau, doch war sie nicht so unglücklich, wie sie vielleicht sein sollte. Die erste Rolle hatte sie auf die zweite vorbereitet. Sie blieb in der Tür zum Salon stehen und bemerkte die mit Schokolade verschmierten Cocktailgläser und die offene Terrassentür. Der kleinste Lufthauch brachte das Riedgras vorm Kamin zum Rascheln. Zwei oder drei behäbige Motten umkreisten die Lampe auf dem Cembalo. Ob jemals wieder darauf gespielt werden würde? Daß diese Nachtgeschöpfe vom Licht angezogen wurden, in dessen Schein sie so leicht gefressen werden konnten, war für sie eines jener Rätsel, die ihr immer wieder ein bescheidenes Vergnügen bereiteten. Sie wollte die Lösung gar nicht kennen. Bei einem offiziellen Abendessen hatte einmal irgendein Professor, der wohl ein wenig mit ihr plaudern wollte, auf einige Insekten gezeigt, die um den Kronleuchter schwirrten, und ihr erzählt, daß die Tiere von der optischen Täuschung einer noch tieferen Dunkelheit hinter dem Licht angezogen würden. Auch auf die Gefahr hin, gefressen zu werden, mußten sie dem Instinkt folgen, der sie nach der dunkelsten Stelle auf der anderen Seite des Lichtes suchen hieß – doch in diesem Fall war es eine Illusion. In ihren Ohren klang das wie Haarspalterei oder wie eine Erklärung um der Erklärung willen. Wie konnte jemand glauben, er könne die Welt mit den Augen eines Insekts sehen? Nicht alles, was geschah, hatte auch eine Ursache, und wer tat, als wenn das anders wäre, der griff vergebens ins Getriebe der Welt ein, was allerhand Kummer heraufbeschwören konnte. Manche Dinge sind eben, wie sie sind.
Sie wollte nicht wissen, warum Jack so viele Nächte hintereinander in London verbrachte. Das heißt, eigentlich wollte sie nicht, daß man es ihr sagte. Und sie wollte auch nichts Genaues über diese Arbeit wissen, die ihn so lange im Ministerium festhielt. Als sie vor Monaten, kurz nach Weihnachten, einmal in die Bibliothek gegangen war, um ihn aus seinem Nachmittagsschlaf zu wecken, hatte sie einen Ordner offen auf dem Tisch liegen sehen. Allein aus leiser, weiblicher Neugier warf sie einen Blick darauf, da sie eigentlich kaum Interesse für seine Verwaltungsarbeit hatte. Das erste Blatt trug eine Liste mit Kapitelüberschriften: Devisenkontrolle, Lebensmittelrationierung, Massenevakuierung großer Städte, Arbeitsdienst. Die gegenüberliegende Seite aber war handgeschrieben, eine Reihe arithmetischer Aufgaben, durch Textabschnitte unterteilt. Jacks steife, braune, gestochen scharfe Schrift riet ihr,

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