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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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dicht am Haus entlang und duckte sich, wenn sie an einem erleuchteten Fenster vorbeikam. Sie wußte, er würde die Auffahrt hinuntergehen, weil ihre Schwester und Leon diesen Weg eingeschlagen hatten. Kaum aber glaubte sie sich in sicherer Entfernung, kehrte sie dem Haus kühn den Rücken und schlug einen weiten Bogen, der sie zu den Stallgebäuden und zum Schwimmbecken führen sollte. Es lag doch auf der Hand, fand sie, daß die Zwillinge dort waren, mit den Schläuchen spielten oder mit dem Gesicht nach unten leblos auf dem Wasser trieben, ununterscheidbar bis in den Tod. Sie überlegte, wie sie den Anblick beschreiben würde, die Jungen, die auf dem sanft wogenden, beleuchteten Wasser dümpelten, ihr Haar, das sich tentakelgleich auffächerte, ihre bekleideten Leichen, die lautlos zusammenstießen und wieder auseinanderglitten. Trockene Nachtluft schlüpfte zwischen Haut und Kleid, und sie fühlte sich im Dunkel behend und geschmeidig. Es gab nichts, was sie nicht beschreiben konnte, sogar das leise Tappen eines Irren, der verstohlen über den Weg schlich, immer am Rand entlang, um das Geräusch seiner Schritte zu dämpfen. Da ihr Bruder bei Cecilia war, brauchte sie sich wenigstens um ihre Schwester keine Sorgen zu machen. Sie könnte auch diese köstliche Luft beschreiben, das Gras, das seinen süßen Viehgeruch verströmte, den hart gebrannten Boden, der noch die Glut des Tages speicherte und einen erdigen Duft nach Ton abgab, und die schwache Brise, die einen Hauch von Grün und Silber vom See herübertrug.
Jetzt lief sie mit elastischen Schritten übers Gras und glaubte, die ganze Nacht lang so laufen, die seidige Luft durchschneiden zu können, wie auf Stahlfedern voranzuschnellen, festen Boden unter den Füßen; und die Dunkelheit bestärkte sie noch in dem Gefühl, rasend schnell dahinzueilen. Sie kannte Träume, in denen sie so zu laufen vermochte, in denen sie sich schließlich vorbeugte, die Arme ausbreitete und vertrauensvoll – das einzig Schwierige, doch im Schlaf einfach genug – vom Boden abhob, indem sie bloß einen Schritt hinauftat, flach über Hecken, Tore und Dächer segelte, sich hochschwang und dann jubelnd unterm Wolkenrand über Felder schwebte, bis sie irgendwann wieder hinabtauchte. Sie ahnte nun, daß dies möglich war, wenn sie es nur entschieden wollte; die Welt, durch die sie rannte, liebte sie und würde ihr geben, was sie wollte, würde das Gewünschte geschehen lassen. Und wenn es soweit war, wollte sie, Briony, es in Worte fassen. War Schreiben nicht auch eine Weise, sich emporzuschwingen, ein Flug der Einbildung, der Phantasie, der Wirklichkeit werden konnte? Doch noch schlich ein Psychopath mit düsterer, unerfüllter Seele durch die Nacht – einmal hatte sie seine Absichten bereits durchkreuzt. Um ihn beschreiben zu können, mußte sie mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen. Zuvorderst jedoch galt es, ihre Schwester vor ihm zu beschützen, erst dann mußte sie einen Weg finden, ihn auf dem Papier heraufzubeschwören. Briony wurde langsamer, fiel in einen gemächlichen Trott und stellte sich vor, wie sehr er sie hassen mußte, seit sie ihn in der Bibliothek gestört hatte. Es machte ihr angst, doch war dies ein Entree, ein weiteres erstes Mal, ein Augenblick der Verwirklichung: von einem Erwachsenen gehaßt zu werden. Kindlicher Haß ist freigebig und flatterhaft. Er hat nicht viel zu bedeuten. Von einem Erwachsenen gehaßt zu werden aber glich der feierlichen Aufnahme in eine neue Welt, war gleichsam eine Beförderung. Wenn er nun umgekehrt war und ihr mit mörderischen Absichten hinterm Stall auflauerte? Sie durfte keine Angst haben. Sie hatte seinem Blick in der Bibliothek standgehalten, als ihre Schwester an ihr vorbeischlüpfte, ohne sich für ihre Rettung erkenntlich zu zeigen. Es ging hierbei ja auch nicht um Dank, das wußte sie, auch nicht um Belohnung. Selbstlose Liebe bedurfte keiner Worte, schließlich würde sie ihre Schwester auch dann noch beschützen, wenn Cecilia niemals anerkennen sollte, wie tief sie in ihrer Schuld stand. Briony durfte sich jetzt nicht vor Robbie fürchten, nur Abscheu und Ekel waren am Platz. Die Familie Tallis hatte ihm zu allerlei Annehmlichkeiten verholfen: das Haus, in dem er aufgewachsen war, unzählige Reisen nach Frankreich, seine Schuluniform, die Bücher, sogar Cambridge – und zum Dank dafür hatte er dieses widerliche Wort gegen ihre Schwester gebraucht, war sogar, in unglaublicher Verletzung des Gastrechtes, ihr

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