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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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mit ihnen zu sprechen. Ihre entscheidende Rolle stärkte ihre Gewißheit. Dies geschah noch in den wirren Stunden vor den eigentlichen Verhören, sie stand den Polizeibeamten im Flur gegenüber, flankiert von Leon und ihrer Mutter. Wie war Emily bloß so rasch von Lolas Bett nach unten gekommen? Der leitende Beamte hatte ein ernstes, zerfurchtes Gesicht, das aussah, als wäre es aus rauhem Granit gemeißelt. Briony hatte Angst, dieser ungerührt beobachtenden Maske ihre Geschichte zu erzählen, beim Reden aber schien eine Last von ihr abzufallen, und ein warmes, devotes Gefühl breitete sich vom Bauch her in all ihre Glieder aus. Es war wie Liebe, eine plötzliche Liebe für diesen wachsamen Mann, der bedingungslos für die Sache der Gerechtigkeit eintrat, der zu jeder Zeit bereit war, in ihrem Namen in den Kampf zu ziehen, assistiert von aller menschlichen Macht und allem menschlichen Wissen. Unter seinem nüchternen Blick zog sich ihre Kehle zusammen, und ihre Stimme versagte. Sie wünschte sich, der Inspektor würde sie umarmen, sie trösten und ihr vergeben, wie schuldlos sie auch immer sein mochte. Doch er schaute sie nur an und hörte zu. Er ist es gewesen. Ich habe ihn gesehen. Ihre Tränen waren ein weiterer Beleg für die Wahrheit, die sie empfand und aussprach, als aber die Hand der Mutter ihren Nacken streichelte, brach sie völlig zusammen und wurde in den Salon geführt.
Doch wenn sie dort von ihrer Mutter auf dem Chesterfield-Sofa getröstet wurde, wieso erinnerte sie sich dann an die Ankunft von Dr. McLaren mit seiner schwarzen Weste, dem altmodisch aufgestellten Hemdkragen, Arztkoffer in der Hand, der schon die drei Geburten und sämtliche Kinderkrankheiten in der Familie Tallis miterlebt hatte? Leon besprach sich mit dem Arzt, beugte sich zu ihm vor und murmelte ihm eine männlich knappe Zusammenfassung der Ereignisse ins Ohr. Wo war nur Leons Unbeschwertheit geblieben? Diese leise Konsultation war typisch für die folgenden Stunden. Jeder Neuankömmling wurde solcherart instruiert; und die Leute – Polizei, der Arzt, Familienmitglieder, Dienstboten – standen in Grüppchen beieinander, die sich auflösten und sich in anderen Zimmerecken, im Flur und draußen hinter der Terrassentür wieder neu bildeten. Nichts wurde zusammengetragen oder öffentlich ausgesprochen. Alle kannten die schrecklichen Einzelheiten einer Vergewaltigung, doch blieben sie jedermanns Geheimnis, das man sich in immer wieder neu zusammengesetzten Gruppen zuflüsterte, um gleich darauf wichtigtuerisch neuen Aufgaben entgegenzueilen.
Möglicherweise weit ernster war der Fall der vermißten Kinder, doch galt allgemein die wie eine Zauberformel wiederholte Ansicht, daß die Jungen sicher wohlbehalten irgendwo im Park schliefen. So konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf das tragische Mißgeschick des Mädchens oben im Schlafzimmer. Paul Marshall kehrte von seiner Suche zurück und wurde von den Polizeiinspektoren unterrichtet. Er ging mit ihnen die Terrasse auf und ab, einen Beamten an jeder Seite, und bot ihnen Zigaretten aus einem Goldetui an. Im Anschluß an ihr Gespräch klopfte er dann dem ranghöheren Beamten auf die Schulter und schien ihn wieder an seine Arbeit zu schicken. Danach kam er ins Haus, um sich mit Emily Tallis zu besprechen. Leon geleitete den Arzt nach oben, der einige Zeit später wieder herunterkam und durch seine Konfrontation mit dem Mittelpunkt all ihrer Sorgen auf unbestimmte Weise an Autorität noch gewonnen zu haben schien. Er hielt ebenfalls sofort eine längere Beratung mit den beiden Zivilbeamten ab, gleich darauf mit Leon und anschließend mit Leon und Mrs. Tallis. Bevor er ging, legte er Briony seine vertraute, schmale, trockene Hand auf die Stirn, prüfte ihren Puls und war zufrieden. Dann griff er nach der Tasche und erteilte, ehe er verschwand, an der Haustür noch einige letzte gemurmelte Ratschläge.
Wo aber war Cecilia? Sie hielt sich am Rand des Geschehens auf, sprach mit niemandem und rauchte ununterbrochen, führte die Zigarette mit einer raschen, hungrigen Bewegung an die Lippen und riß sie sich angewidert wieder aus dem Mund. Oder sie lief im Flur auf und ab und zerknüllte ein Taschentuch. Normalerweise hätte sie in einer solchen Situation das Heft in die Hand genommen, hätte sich um Lolas Behandlung gekümmert, ihre Mutter getröstet, den Empfehlungen des Arztes gelauscht und sich mit Leon beraten. Briony stand in der Nähe, als ihr Bruder kam, um mit Cecilia zu reden, doch die

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