Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
Vom Netzwerk:
können.
Lola sagte: »Weißt du, er ist von hinten gekommen und hat mich zu Boden geworfen… und dann… dann hat er mir den Kopf in den Nacken gedrückt und die Hand über die Augen gepreßt. Deshalb konnte ich nicht… wußte ich nicht…« »Ach, Lola.« Briony streckte eine Hand aus, um ihrer Kusine übers Gesicht zu streichen, und berührte ihre Wange. Sie war trocken, aber das würde sie nicht mehr lange sein – das wußte Briony. »Hör doch. Ich kann mich gar nicht täuschen. Schließlich kenne ich ihn mein Leben lang. Ich habe ihn gesehen.« »Ich war mir nämlich nicht sicher. Ich meine, wegen seiner Stimme habe ich mir gedacht, daß er es gewesen sein muß.« »Was hat er denn gesagt?«
»Nichts. Es waren mehr die Geräusche, sein Atem, Laute, die er von sich gegeben hat. Aber sehen konnte ich ihn nicht, deshalb war ich mir eben nicht sicher.«
»Aber ich bin es. Und das werde ich allen sagen.« Und so nahmen sie in diesen Augenblicken am See ihre jeweiligen Positionen ein, die in den folgenden Wochen und Monaten auch öffentlich bekannt und privat noch viele Jahre wie besessen stets aufs neue bekräftigt werden sollten, wobei Brionys Überzeugung wuchs, sooft ihrer Kusine Zweifel zu kommen schienen. Von Lola wurde danach nicht mehr viel verlangt, denn sie konnte ihre seelische Verfassung vorschieben, diese qualvolle Konfusion, und sich als umsorgte Patientin, als genesendes Opfer und armes Mädchen in der Sorge und Gewissensnot der Erwachsenen sonnen. Wie war es möglich, daß dies einem Kind widerfuhr? Lola konnte und mußte ihnen nicht helfen. Briony bot ihr eine Chance, und Lola griff instinktiv zu; nein, nicht einmal das – sie ließ es einfach geschehen. Sie brauchte kaum mehr zu tun, als sich stumm hinter ihrer eifrigen Kusine zu verbergen. Lola mußte nicht lügen, mußte ihrem vermeintlichen Angreifer nicht ins Gesicht sehen und den Mut nicht aufbringen, ihn anzuklagen, denn all diese Mühe wurde ihr von dem jüngeren Mädchen arglos und ohne Falsch abgenommen. Lola hatte nur die Wahrheit zu verschweigen, sie zu verbannen, vollständig zu vergessen, brauchte sich nicht einmal eine andere Geschichte einzureden, sondern sich bloß immer wieder ihrer eigenen Ungewißheit zu vergewissern. Sie konnte nichts sehen, seine Hand über ihren Augen, sie hatte Angst gehabt, sie war sich nicht sicher.
Briony war da, um ihr bei jedem Schritt zu helfen. Für sie paßte einfach alles zusammen; die jüngste Vergangenheit gipfelte in der schrecklichen Gegenwart, denn Ereignisse, die sie selbst bezeugen konnte, hatten das Verhängnis ihrer Kusine angekündigt. Wäre sie doch bloß nicht so ahnungslos, so dumm gewesen! Jetzt verstand sie, daß dieser Vorfall sich genauso zugetragen haben mußte, wie sie es beschrieb, weil ihm eine schlüssige Symmetrie zugrunde lag. Sie hielt sich ihre kindliche Unschuld vor, die sie hatte glauben lassen, Robbie beschränke seine Aufmerksamkeiten auf Cecilia. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Jede war ihm recht. Und natürlich würde er sich an die Schwächste heranmachen – an ein schlaksiges Mädchen, das an fremdem Ort durch die Dunkelheit strauchelte, um tapfer auf der Insel nach seinen Brüdern zu suchen. Genau wie Briony es vorgehabt hatte. Fast wäre sie also selbst sein Opfer geworden, und dieser Gedanke schürte Brionys Eifer und ihre Wut. Wenn ihre arme Kusine die Wahrheit schon nicht beim Namen nennen wollte, dann würde Briony es eben für sie tun. Ich kann. Und ich werde es tun.
Schon in der darauffolgenden Woche war die blanke Fassade der Gewißheit nicht mehr frei von ersten Schönheitsfehlern und kleinen Rissen. Sobald sie daran dachte, was nicht sehr oft geschah, stand sie mit leichtem Magenflattern wieder jener Einsicht gegenüber, daß das, was sie wußte, genaugenommen nicht auf dem basierte, was sie gesehen hatte, jedenfalls nicht ganz allein. Es waren nicht bloß die Augen, die ihr die Wahrheit verraten hatten. Dafür war es zu dunkel gewesen. Selbst aus knapp einem halben Meter Entfernung hatte Lolas Gesicht nur einer leeren Scheibe geglichen, und diese Gestalt war viele Meter entfernt gewesen und hatte ihr im Davonlaufen den Rükken zugekehrt. Und dennoch war sie nicht unsichtbar gewesen, waren Briony die Statur und die Bewegungen vertraut gewesen. Die Augen bestätigten ihr nur die Summe dessen, was sie wußte oder erst kürzlich erfahren hatte. Die Wahrheit lag in der Symmetrie, will heißen, sie beruhte auf gesundem Menschenverstand. Die

Weitere Kostenlose Bücher