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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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nutzte den eigenen klaren Kopf nur zum Besten ihrer Schwester.
Als sie fünf Minuten später triumphierend wieder in den Salon kam, schenkte ihr niemand Beachtung, und alles war unverändert – müde, bekümmerte Erwachsene nippten an ihrem Tee oder rauchten stumm eine Zigarette. Vor lauter Aufregung hatte sie gar nicht überlegt, wem sie den Brief geben sollte; ihre Phantasie hatte ihr vorgegaukelt, daß ihn alle zugleich lesen könnten. Sie beschloß, ihn Leon anzuvertrauen, und ging durch das Zimmer auf ihren Bruder zu, doch als sie vor den drei Männern stand, änderte sie ihre Meinung und schob das gefaltete Papier in die Hände des Polizisten mit dem Granitgesicht. Falls er überhaupt eine andere Miene aufsetzen konnte, tat er das jedenfalls nicht, als er den Brief entgegennahm, auch nicht, als er ihn las, was unglaublich rasch geschah, beinahe auf einen Blick. Er schaute sie an, dann sah er zu Cecilia hinüber, die ihr Gesicht abgewandt hatte. Mit einer sparsamen Handbewegung bedeutete er dem anderen Polizisten, den Brief ebenfalls zu lesen. Kaum war der damit fertig, wurde er Leon weitergereicht, der einen Blick darauf warf, ihn zusammenfaltete und dem leitenden Beamten zurückgab. Briony beeindruckte diese wortlose Reaktion – welche Souveränität diese drei Männer doch ausstrahlten. Erst jetzt wurde Emily Tallis auf den Gegenstand des Interesses aufmerksam. Auf ihre eher beiläufige Frage aber antwortete Leon: »Es ist nur ein Brief.«
»Gib ihn her, ich werde ihn lesen.«
Zum zweiten Mal an diesem Abend sah Emily sich gezwungen, in ihrem Haus kursierende Schriftstücke einzufordern. Als Briony merkte, daß von ihr nichts weiter erwartet wurde, verzog sie sich auf das Chesterfield-Sofa, um aus dem Blickwinkel ihrer Mutter das Unbehagen in den Mienen der Männer zu beobachten.
»Ich werde ihn lesen.«
Ihr scheinbar gleichgültiger Tonfall verhieß nichts Gutes. Leon zuckte die Achseln und zwang sich zu einem entschuldigenden Lächeln – was sollte er auch einwenden? – und Emilys nachsichtiger Blick wanderte zu den beiden Inspektoren. Sie gehörte einer Generation an, die Polizisten, gleich welchen Ranges, wie Gesinde behandelte. Also ging der jüngere Inspektor, einem Kopfnicken seines Vorgesetzten gehorchend, zu ihr und reichte ihr das Papier. Endlich wurde auch Cecilia stutzig, die in Gedanken weit fort gewesen sein mußte. Als gleich darauf der Brief offen im Schoß ihrer Mutter lag, sprang sie von ihrem Cembalohocker auf und stürzte darauf zu.
»Wie könnt ihr es wagen! Wie könnt ihr nur!«
Leon war ebenfalls aufgestanden und hob beschwichtigend die Hände. »Cee…«
Als sie ihrer Mutter den Brief mit einem Satz entreißen wollte, standen ihr allerdings nicht nur ihr Bruder, sondern auch die beiden Polizisten im Weg. Marshall war ebenfalls in der Nähe, mischte sich aber nicht ein.
»Er gehört mir«, rief sie. »Dazu habt ihr kein Recht!« Emily blickte nicht einmal von ihrer Lektüre auf, sie nahm sich die Zeit, den Brief mehrere Male aufmerksam zu lesen. Als sie schließlich fertig war, parierte sie die Empörung ihrer Tochter mit ihrer eignen kalten Wut. »Wenn du getan hättest, was sich gehört, meine junge, so überaus gebildete Dame, dann wärest du hiermit zu mir gekommen, und wir hätten rechtzeitig etwas dagegen unternommen. Deiner Kusine wäre dieser Alp träum dann erspart geblieben.«
Einen Moment lang stand Cecilia allein mitten im Raum, fuchtelte mit den Fingern der rechten Hand vor ihren Gesichtern herum und starrte sie der Reihe nach an, unfähig zu begreifen, was sie mit diesen Menschen verband, unfähig, ihnen auch nur ansatzweise zu erzählen, was sie wußte. Und obwohl sich Briony durch die Reaktion der Erwachsenen bestätigt fühlte und spürte, wie sich eine süße Glut in ihrem Innern auszubreiten begann, war sie doch froh, neben ihrer Mutter auf dem Sofa zu sitzen und wenigstens teilweise durch die vor ihr stehenden Männer vor der rotäugigen Verachtung ihrer Schwester geschützt zu sein. Mehrere Sekunden lang ließ Cecilia sie nicht aus den Augen, dann drehte sie sich um und lief aus dem Zimmer. Auf dem Flur stieß sie einen lauten Verzweiflungsschrei aus, der über die nackten Bodenfliesen hallte. Dann hörte man sie die Treppe hinaufgehen, und im Salon machte sich ein Gefühl von Erleichterung, ja fast von Erlösung breit. Als Briony wieder einfiel, sich nach dem Brief umzusehen, hielt Marshall ihn in Händen und gab ihn gerade dem Inspektor zurück, der ihn

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