McEwan Ian
wandte sich von ihm ab, unfähig, ihm zu helfen oder auch nur ein Wort zu sagen. Gänzlich ungewohnt aber war, daß ihre Mutter in der Not über sich hinauswuchs, keine Migräne hatte und auch nicht allein sein mußte. Ihre Autorität schien sogar stärker zu werden, je mehr sich ihre ältere Tochter in ihrem Kummer verlor. Es gab Momente, da sah Briony, wenn sie gebeten wurde, ihren Bericht oder eine Einzelheit zu wiederholen, wie ihre Schwester bis auf Hörweite herankam und sie mit düsteren, glühenden Blicken musterte. Beunruhigt hielt sich Briony eng an ihre Mutter. Cecilias Augen waren blutunterlaufen. Und während sich die übrigen Anwesenden in Gruppen murmelnd unterhielten, ging sie ruhelos auf und ab, von einem Zimmer ins andere, oder stand, mindestens zweimal, draußen vor der Haustür. Nervös ließ sie das Taschentuch von einer Hand in die andere wandern, wickelte es auf, rollte es wieder auseinander, ballte es zusammen, nahm es erneut in die andere Hand und steckte sich eine Zigarette an. Als Betty und Polly Tee servierten, rührte sie ihn nicht an.
Man meldete nach unten, daß das vom Arzt verabreichte Beruhigungsmittel wirke und Lola eingeschlafen sei, eine Neuigkeit, die vorübergehend für eine gewisse Erleichterung sorgte. Ausnahmsweise hatten sich alle im Salon versammelt, um dort still und erschöpft den Tee zu sich zu nehmen. Niemand sprach es aus, aber man wartete auf Robbie. Außerdem rechnete man jeden Augenblick mit der Ankunft von Mr. Tallis aus London. Leon und Marshall beugten sich über eine Karte vom Park, die sie für den Inspektor gezeichnet hatten. Der nahm sie, warf einen Blick darauf und reichte sie seinem Assistenten. Die beiden Wachtmeister waren nach draußen geschickt worden, um bei der Suche nach Pierrot und Jackson zu helfen, darüber hinaus hatte man offenbar weitere Polizisten zum Pförtnerhaus geschickt für den Fall, daß Robbie dorthin zurückkehren würde. Cecilia saß auf dem Cembalohocker, abseits, genau wie Marshall. Einmal stand sie auf, um sich von ihrem Bruder Feuer geben zu lassen, doch der Chefinspektor kam ihm zuvor. Briony saß neben ihrer Mutter auf dem Sofa, und Betty und Polly reichten das Tablett herum. Später konnte Briony sich nicht daran erinnern, was sie auf den Gedanken gebracht hatte. Wie aus dem Nichts kam ihr eine außerordentlich klare, bestechende Idee, sie brauchte nicht einmal ihre Absicht kundzutun oder ihre Schwester um Erlaubnis zu fragen. Ein schlagender Beweis, vollkommen unabhängig von ihrer eigenen Version der Ereignisse. Ein unumstößlicher Beleg. Oder ein Indiz für ein weiteres Verbrechen. Man fuhr erschreckt zusammen, als ihr Geistesblitz sie aufspringen ließ; fast hätte sie ihrer Mutter die Teetasse vom Schoß gestoßen.
Sie sahen ihr nach, wie sie aus dem Salon lief, doch fragte niemand, was los sei, so groß war die allgemeine Erschöpfung. Briony dagegen nahm zwei Stufen auf einmal, getrieben von dem Gefühl, etwas tun zu können, gut sein zu können, mit einer Überraschung herausplatzen zu können, die ihr nur Lob einbringen konnte. Es war fast wie an Heiligabend, wenn man weiß, daß man ein Geschenk überreicht, das nur Freude bereiten kann, ein seliges Gefühl untadeliger Eigenliebe.
Sie rannte über den Flur im zweiten Stock in Cecilias Zimmer. Wie konnte ihre Schwester bloß in einem solchen Saustall leben? Beide Schranktüren standen weit offen. Einzelne Kleider waren vorgezogen, andere hingen nur noch halb auf den Bügeln, und zwei lagen auf dem Boden, das eine schwarz, das andere rosa, seidige, edel aussehende, doch achtlos fallen gelassene Fähnchen. Verstreut um diese Haufen lagen einzelne Schuhe, so wie sie von den Füßen geschleudert worden waren. Briony bahnte sich einen Weg durch das Chaos zur Frisierkommode. Was hinderte Cecilia bloß daran, die Verschlüsse und Deckel ihrer Make-up-Döschen und Parfümfläschchen wieder zuzuschrauben? Warum machte sie nie ihren stinkenden Aschenbecher sauber? Warum schüttelte sie ihr Bett nicht auf oder öffnete die Fenster, um frische Luft einzulassen? Die erste Schublade, in der sie nachsah, ließ sich nur wenige Zentimeter weit öffnen – sie klemmte, zum Bersten voll mit Schachteln und Tuben. Sicher, Cecilia war zehn Jahre älter, aber irgendwie war sie doch ein hoffnungsloser Fall. Und obwohl sich Briony vor Cecilias wildem Blick fürchtete, war sie überzeugt, das Richtige zu tun, als sie eine weitere Schublade aufzog; schließlich war sie ihretwegen hier und
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