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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Worten anrichtete. Sobald der Fall aber abgeschlossen, das Urteil gefällt und die Gemeinde auseinandergegangen war, beschützte sie eine skrupellose, jugendliche Unbeschwertheit, ein eigensinniges Vergessen bis weit in die Pubertät hinein.
»Nun, ich kann. Und ich werde es tun.«
Sie schwiegen eine Weile, und Lolas Frösteln legte sich. Briony nahm an, daß sie gut daran täte, ihre Kusine nach Hause zu bringen, doch zögerte sie noch, ihre Zweisamkeit zu beenden – sie hatte die Arme um die Schultern des älteren Mädchens gelegt, und Lola schien Brionys Zärtlichkeit jetzt zu genießen. Auf der anderen Seeseite sahen sie ein nadelkopfgroßes Licht auf und ab hüpfen – eine Fackel, die über die Zufahrt getragen wurde –, verloren aber kein Wort darüber. Als Lola schließlich etwas sagte, klang sie sehr nachdenklich, als hätte sie die tükkischen Strömungen einiger Gegenargumente ausgelotet. »Aber das ergibt doch keinen Sinn. Er ist ein enger Freund der Familie. Er ist es bestimmt nicht gewesen.«
Briony murmelte: »Das würdest du nicht sagen, wenn du mit mir in der Bibliothek gewesen wärest.«
Lola seufzte und schüttelte langsam den Kopf, als versuchte sie, sich mit der unannehmbaren Wahrheit abzufinden. Wieder schwiegen sie, und sie hätten vielleicht noch länger da gesessen, wäre nicht die Feuchtigkeit gewesen – für Tau war es noch etwas zu früh –, die sich langsam über das Gras legte, während der Himmel aufklarte und die Temperatur sank. Als Briony ihre Kusine flüsternd fragte: »Glaubst du, du schaffst es?«, nickte diese tapfer. Briony half ihr auf, und dann gingen sie – erst Arm in Arm, dann stützte sich Lola mit ihrem Gewicht auf Brionys Schulter ab – über das Gras auf die Brücke zu. Sie kamen an den Rand der Böschung, und dort begann Lola schließlich doch noch zu weinen.
»Ich komm da nicht rauf«, brachte sie mühsam hervor, »ich bin einfach zu schwach.« Sicher wäre es besser, dachte Briony, wenn sie zum Haus liefe und Hilfe holte. Gerade wollte sie Lola ihre Absicht erklären und der Kusine einen bequemen Platz zum Ausruhen suchen, da hörte sie oben auf dem Weg Stimmen, und Fackellicht blendete sie. Ein Wunder, dachte Briony, als sie die Stimme ihres Bruders erkannte. Wie ein echter Held kam er mit wenigen, mühelosen Schritten die Böschung herab und nahm, ohne zu fragen, Lola wie ein kleines Kind auf den Arni. Cecilia rief nach ihnen, die Stimme heiser vor Sorge, doch gab ihr niemand Antwort. Mit raschen Sätzen eilte Leon den Abhang bereits wieder hinauf, so daß Briony nur mit Mühe Schritt halten konnte. Bevor sie aber den Weg erreichten und noch ehe er Lola wieder absetzen konnte, hatte ihm Briony erzählt, was vorgefallen war, genau so, wie sie es gesehen hatte.
Vierzehn
    D ie Erinnerungen an das Verhör, die schriftlichen und mündlichen Zeugenaussagen oder ihre ehrfürchtige Scheu vor dem Gerichtssaal, zu dem sie als Minderjährige keinen Zutritt hatte, sollten sie in den folgenden Jahren längst nicht so quälen wie die Tatsache, daß sie jenen späten Abend und die frühe Morgendämmerung nur bruchstückhaft zusammensetzen konnte. Wie Schuldgefühle doch die Selbstfolter verschärften, wie sie die Einzelheiten gleich Perlen auf eine Endlosschleife zogen, die man sein Leben lang wie einen Rosenkranz befingerte. Endlich im Haus zurück, begann eine traumgleiche Zeit der Tränen, ernst dreinblickenden Neuankömmlinge, gedämpften Stimmen und hastigen Schritte über den Flur, aber auch der eigenen, schändlichen Erregtheit, die Briony die Schläfrigkeit vergessen ließ. Natürlich war sie alt genug, um zu wissen, daß sich augenblicklich alles um Lola drehte, doch wurde diese umgehend von mitfühlenden, weiblichen Händen ins Schlafzimmer geführt, um dort auf den Arzt und die Untersuchung zu warten. Vom Fuß der Treppe aus sah Briony, wie Lola nach oben ging, laut schluchzend, flankiert von Emily und Betty und gefolgt von einer Waschschüssel und Handtücher tragenden Polly. Durch den Abgang ihrer Kusine stand Briony nun allein im Rampenlicht der allgemeinen Aufmerksamkeit – von Robbie war noch nichts zu sehen –, und sie fand, daß es zu ihrer neugewonnenen Reife paßte, wie man plötzlich auf sie hörte, sich nach ihr richtete und ihr immer wieder behutsam zuredete.
Etwa um diese Zeit hielt ein Humber vor dem Haus, dann wurden zwei Polizeiinspektoren und zwei Wachtmeister hereingeführt. Briony war ihre einzige Zeugin, und sie zwang sich, ruhig und gefaßt

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