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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Wahrheit öffnete ihr die Augen. Wenn Briony also wieder und wieder sagte, sie habe ihn gesehen, meinte sie, was sie sagte, war sie ganz ehrlich und leidenschaftlich davon überzeugt. Was sie aber meinte, war etwas komplizierter als das, was alle so bereitwillig verstanden, und ihr wurde unbehaglich zumute, wenn sie spürte, daß sie diese Nuancen nicht in Worte fassen konnte. Sie versuchte es nicht einmal ernsthaft. Es gab keine Gelegenheit, keine Zeit, kein Entgegenkommen. Innerhalb weniger Tage, nein, innerhalb einiger Stunden war ein Prozeß ins Rollen gebracht, der sich rasch ihrer Kontrolle entzog. Ihre Worte riefen furchteinflößende Mächte in dem heimeligen Bilderbuchdorf wach. Es war, als hätten diese schrecklichen Autoritäten, diese uniformierten Beamten lauernd hinter den Fassaden hübscher Gebäude auf eine Katastrophe gewartet, von der sie wußten, daß sie geschehen würde. Und sie kannten ihre eigenen Absichten, wußten, was sie wollten und wie sie vorgehen mußten. Wieder und wieder wurde sie befragt, und mit jeder Wiederholung wuchs die Last der Widerspruchsfreiheit. Was sie gesagt hatte, mußte sie stets aufs neue sagen. Selbst geringe Abweichungen brachten ihr ein leichtes Stirnrunzeln weiser Häupter ein, einen frostigen Blick und schwindendes Mitgefühl. Sie gab sich Mühe zu gefallen und lernte rasch, daß die kleinen Ausschmückungen, die sie so gern hinzugefügt hätte, den Ablauf der Dinge störten, der von ihr selbst in Gang gesetzt worden war.
Sie kam sich wie eine Verlobte vor, die immer heftiger unter Zweifeln litt, je näher der Tag der Hochzeit rückte, und doch nicht offen zu reden wagte, weil ihretwegen bereits zahlreiche Vorbereitungen getroffen worden waren. Glück und Wohl so vieler lieber Menschen standen auf dem Spiel. In flüchtigen Momenten empfand sie eine innere Unruhe, die sich nur dadurch vertreiben ließ, daß sie sich von der freudigen Erregung ihrer Umgebung anstecken ließ. So viele anständige Menschen konnten nicht irren, und Zweifel wie die ihren, so wurde ihr gesagt, waren nichts Ungewöhnliches. Briony wollte nicht gleich alles in Frage stellen. Sie glaubte nicht, daß sie nach ihrer anfänglichen Gewißheit – und nach zwei, drei Tagen geduldiger, freundlicher Verhöre – noch den Mut besaß, ihre Aussage zurückzunehmen. Doch hätte sie gern die Bedeutung des Wortes »gesehen« erläutert oder doch ein wenig verkompliziert, so daß es weniger »sehen« und mehr »wissen« meinte. Dann hätte sie nämlich den Verhörspezialisten die Entscheidung überlassen können, ob sie gemeinsam im Namen dieser Art Vision, dieses Verständnisses von »Sehen« weitermachen wollten. Doch die reagierten gleichgültig, wenn sie zauderte, und erinnerten sie irgendwann nachdrücklich an ihre ersten Aussagen. War sie denn ein dummes Mädchen, sprachen ihre Mienen, das nur jedermanns Zeit verschwendete? Außerdem hatten sie eine strenge Auffassung vom Sichtbaren. Die das Licht der Straßenlampen in der nahen Ortschaft reflektierende Wolkendecke und die Sterne hatten, so war ermittelt worden, für genügend Helligkeit gesorgt. Entweder hatte sie ihn also gesehen, oder sie hatte ihn nicht gesehen, dazwischen gab es nichts. Das sagten sie zwar nicht, doch ihre brüske Haltung ließ es ahnen. In diesen Augenblicken, wenn Briony die unwirsche Mißbilligung dieser Männer spürte, griff sie auf ihre anfängliche Inbrunst zurück und sagte es noch einmal. Ich habe ihn gesehen. Ich weiß, daß er es gewesen ist. Wie tröstlich es doch war, ihnen etwas zu bestätigen, das sie ohnedies bereits wußten.
Sie würde sich niemals damit trösten können, daß man sie gezwungen oder unter Druck gesetzt hatte. Das hatte man nicht. Sie war selbst in die Falle gelaufen, ins Labyrinth ihrer Hirngespinste marschiert, und sie war zu jung, zu verschüchtert, zu gefallsüchtig, um auf einer Umkehr zu bestehen. Dazu fehlte ihr das nötige Selbstbewußtsein, vielleicht war sie auch noch nicht alt genug dafür. Eine eindrucksvolle Gemeinde hatte sich um ihre ersten Gewißheiten geschart, und die wartete nun auf sie und konnte vor dem Altar nicht mehr enttäuscht werden. Ihre Zweifel ließen sich bloß dadurch beschwichtigen, daß sie sich immer vehementer ans einmal Gesagte klammerte. Nur indem sie unbeirrt an dem festhielt, was sie zu wissen glaubte, keine Abweichung zuließ und ihre Aussage stetig wiederholte, konnte sie das Unheil aus ihren Gedanken verbannen, das sie, wie sie dumpf ahnte, mit ihren

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