McEwan Ian
folgenden Tagen keine Wahl lassen. Als sie schließlich ihre eigene Version dessen vorbrachte, was sich in der Bibliothek ereignet hatte – auf ihre Weise viel schokkierender als Brionys Geschichte, selbst wenn das Ganze auf gegenseitigem Einverständnis beruht hatte –, bestätigte sie damit doch nur den Eindruck, den man sich inzwischen allgemein gemacht hatte: Mr. Turner war ein gefährlicher Mann. Cecilias wiederholter Hinweis, daß sie sich lieber Danny Hardman vorknöpfen sollten, wurde schweigend zur Kenntnis genommen. Es war verständlich, wenn auch ein wenig geschmacklos, daß diese junge Frau ihren Freund zu decken versuchte, indem sie einen unschuldigen Jungen verdächtigte.
Kurz nach fünf, als man gerade das Frühstück servieren wollte – zumindest für die Polizisten, da sonst niemand hungrig war –, machte das Wort die Runde, daß eine Gestalt, möglicherweise Robbie, durch den Park auf das Haus zukam. Vermutlich hatte jemand aus einem Fenster im oberen Stock gesehen und ihn entdeckt. Briony wußte nicht, wie es kam, daß sie nach draußen gehen wollten, um ihn dort zu erwarten, aber plötzlich waren alle da, die Familie, Paul Marshall, Betty und ihre Gehilfen, die Polizisten, ein vor der Haustür versammeltes Empfangskomitee. Nur Lola in ihrem Betäubungsschlaf und Cecilia in ihrer Wut waren oben geblieben. Möglicherweise hatte Mrs. Tallis Robbies verderblichen Einfluß nicht mehr in ihrem Haus haben wollen. Oder der Inspektor hatte eine gewaltsame Auseinandersetzung befürchtet, mit der man im Freien besser fertig werden konnte. Selbst eine Verhaftung ließe sich hier leichter vornehmen. Jedenfalls war der Zauber der Dämmerung mittlerweile verflogen, und ein grauer Morgen breitete sich aus, bemerkenswert nur durch den hochsommerlichen Nebel, den die Sonne sicherlich bald fortgebrannt haben würde.
Zuerst sahen sie gar nichts, obwohl Briony meinte, das Geräusch von Schritten auf der Zufahrt hören zu können. Dann hörten es alle, und leises Gemurmel und eine allgemeine Unruhe kamen auf, als man in gut dreißig Meter Entfernung eine undefinierbare Gestalt entdeckte, kaum mehr als ein gräulicher Fleck im weißen Nebel. Als der Fleck Form annahm, verstummte die Gruppe wieder. Niemand wußte recht zu deuten, was dort auftauchte. Bestimmt spielte ihnen Licht oder Nebel bloß einen Streich. In einer Zeit der Telefone und Motorwagen glaubte doch niemand mehr, daß im übervölkerten Surrey noch zweieinhalb Meter große Riesen existierten. Aber da kam einer, eine Erscheinung, ebenso unmenschlich wie zielstrebig. Dieses Etwas konnte es einfach nicht geben, und zugleich war es nicht zu übersehen und kam direkt auf sie zu. Betty – von der man wußte, daß sie Katholikin war – bekreuzigte sich, die kleine Gruppe scharte sich dichter um die Haustür. Nur der dienstältere Inspektor ging einige Schritte vor, und im selben Augenblick löste sich das Rätsel. Den entscheidenden Hinweis gab eine zweite, zwergenhafte Gestalt, die neben der ersten hertrottete. Dann war es nicht länger zu übersehen – es war Robbie, der einen Jungen auf der Schulter trug und den anderen an der Hand hielt und hinter sich herzog. Als er nur noch etwa zehn Meter entfernt war, blieb er stehen und schien etwas sagen zu wollen, wartete dann aber auf den Inspektor und die übrigen Polizisten, die ihm entgegeneilten. Der Junge auf seinen Schultern schien zu schlafen. Der andere Junge lehnte den Kopf an Robbies Hüfte und preßte dessen Hand an seine Brust, als wollte er sich schützen oder daran wärmen.
Im ersten Moment empfand Briony Erleichterung darüber, daß die Jungen wohlauf waren. Doch als sie Robbie sah, wie er da seelenruhig auf die Polizisten wartete, packte sie plötzlich die Wut. Glaubte er denn, sein Verbrechen ließe sich mit dieser netten Gefälligkeit, diesem Auftritt als Guter Hirte vertuschen? Das war doch wirklich ein unglaublich zynischer Versuch, Vergebung für etwas zu erringen, das niemals vergeben werden konnte. Wieder einmal wurde sie in ihrer Ansicht bestätigt, daß das Böse kompliziert und irreführend ist. Plötzlich spürte sie auf den Schultern die Hände ihrer Mutter, die sie unnachgiebig zum Haus umdrehten und Bettys Obhut anvertrauten. Emily wollte ihre Tochter möglichst weit fort von Robbie Turner wissen. Nun war es also doch Zeit fürs Bett geworden. Betty nahm sie fest an der Hand und führte sie ins Haus, während ihre Mutter und ihr Bruder sich um die Zwillinge kümmerten. Ein letzter
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