Meade Glenn
verstärkte ihre Melancholie. Sie setzte sich an den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr brummte der Schädel.
Nikolai schlief. Vor fünf Minuten hatte sie nach ihm gesehen.
Seine Stirn glühte. Sie hatte Eiswürfel aus dem Kühlschrank in ein Geschirrtuch gewickelt und versucht, sein Fieber zu senken.
Als sie in die Küche zurückkehrte, um das nasse Handtuch auszuwringen, überkam sie furchtbare Angst. Sie hatte das Gefühl, einen schrecklichen Albtraum zu durchleben. Die Amerikaner würden ihre Identität nach den Ereignissen in Erfahrung bringen und sie suchen und aufspüren, egal, wo sie sich versteckte. Sie würden sie schnappen, ins Gefängnis werfen oder sogar töten.
Was würde aus Josef werden? Er hatte schon einen Vater verloren. Wer würde sich um ihn kümmern? Sie liebte ihren Sohn von ganzem Herzen. Der Gedanke, er würde mutterseelenallein zurückbleiben und in den nächsten dreißig Jahren in einer winzigen Zelle eingesperrt sein, zerriss ihr das Herz. Sie kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen stiegen, und hätte ihren Kummer am liebsten laut hinausgeschrien.
Einen kurzen Augenblick spielte sie mit einem irrsinnigen Gedanken: Sollte sie die Polizei rufen, sich stellen und alles gestehen? Wenn sie es täte, würde sie Nikolai und Josef dem Tode weihen, und dieser Gedanke ließ sie so verzweifeln, dass sie fast die Nerven verlor.
Sie konnte Nikolai und ihren Sohn unmöglich verraten. Karlas Gedanken wanderten in die Vergangenheit, in die Zeit, die sie in Moskau verbracht hatte. Damals hatte sie Nikolai sehr geliebt.
Dieser Teil des Lebens war ihr Geheimnis. Selbst ihr Ehemann hatte niemals davon erfahren. Als sie in den Libanon zurückgekehrt war, um zu heiraten, hatte sie sich bemüht, Nikolai zu vergessen. Josef wurde geboren, die Jahre zogen ins Land, und allmählich verblassten die Erinnerungen an die große Liebe ihres Lebens. Vergessen hatte sie Nikolai nie. Wie könnte sie auch?
Tief in ihrem Herzen hütete sie das Geheimnis, aber immer, wenn sie in Josefs Gesicht sah und seine Stimme hörte, wurde sie an Nikolai erinnert. Ihr Sohn war in der letzten Nacht, die sie mit Nikolai in Moskau verbrachte, gezeugt worden. Als sie zwei Wochen später nach Sur zurückkehrte, heiratete sie Michael. Ihr Ehemann erfuhr es nie. Sie brachte es nicht übers Herz, es ihm zu gestehen. Michael glaubte bis zu seinem Tod, Josef sei sein eigener Sohn. Im Laufe der Zeit lernte sie, mit der Lüge zu leben.
Karla sah Josefs Zeugung nicht als bedauerlichen Unfall an.
Sie hatte Nikolai aus tiefster Seele begehrt und sich verzweifelt ein Kind von ihm gewünscht, um ihn nicht gänzlich zu verlieren. Als sie ihn an jenem Tag nach all den Jahren in Sur wieder sah, wurden die alten Gefühle wieder lebendig. Es war nicht mehr die leidenschaftliche Liebe der Moskauer Tage, sondern eine zarte Zuneigung, die niemals erlöschen würde.
Sollte sie ihm das Geheimnis anvertrauen? Was würde sie nach so langer Zeit dadurch erreichen?
Sie verdrängte die Gedanken an die Vergangenhe it und dachte über ihre missliche Lage nach. Im Grunde hatte sie keine andere Wahl, als weiterzumachen und ihre Rolle zu spielen.
Es war die einzige Möglichkeit, Josefs Freilassung zu erreichen. Ob es überhaupt gelingen würde, stand in den Sternen. Könnte sie wirklich eine halbe Million Menschen töten, damit ihr Sohn am Leben blieb?
Diese Gedanken quälten sie, und ihre Kraft, die sie bis jetzt angetrieben hatte, ließ sie im Stich. Sie sackte verzagt am Küchentisch zusammen, vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte. Josef, mein Liebling, was habe ich getan?
Sie hörte Geräusche hinter sich und drehte sich um. Nikolai stand im Türrahmen. Er war leichenblass und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Die Wunde blutete wieder.
Seine Hand, die er auf die Wunde presste, war blutverschmiert.
» Nikolai… !«
Karla lief zu ihm und schnappte entsetzt nach Luft, als Nikolai vor ihren Augen zu Boden sank.
38
Washington, D.C.
14.50 Uhr
»Mr. President, Sie sehen blendend aus! So gut haben Sie schon lange nicht mehr ausgesehen!« Ein strahlender Al Brown lief auf den Präsidenten zu, um ihm die Hand zu schütteln. »Jetzt verraten Sie mir sicher, um was es geht, nicht wahr? Vielleicht sollte ich ein paar Tage auf Ihrer Ranch verbringen?«
Als Brown vor dem Präsidenten stand, wurde ihm sofort bewusst, dass er es mit der Arschkriecherei ein wenig übertrieben hatte. Der Präsident, der dem
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