Meade Glenn
kalt den Rücken hinunter. Das Leben hunderttausender Menschen liegt in meiner Hand. Wenn ich versage, könnten viele von ihnen sterben.
Er dachte über seine erschreckende Verantwortung nach und schüttelte bestürzt den Kopf. Welcher Mensch würde im Namen eines religiösen Fanatismus hunderttausende von Männern, Frauen und Kindern zum Tode verurteilen? Welcher Mensch konnte Amerika so abgrundtief hassen, dass er bereit war, um seiner Sache willen die Bevölkerung einer ganzen Stadt zu vernichten?
Darauf wusste der Präsident keine Antwort. Er schloss die Augen und sprach langsam und bedächtig ein Vaterunser.
11
Chesapeake Beach
11. November, 12.15 Uhr
An diesem Samstagnachmittag herrschte im Davito’s Restaurant reger Betrieb. Dennoch konnte Nikki einen Tisch im Wintergarten mit Blick auf den Jachthafen ergattern. Sie saßen in der warmen Sonne und genossen die schöne Aussicht auf die Boote, den lang gezogenen Strand, die Küste und die Möwen, die in der kalten Herbstbrise schwebten. Nikki bestellte sich einen Geflügelsalat und Jack eine Saltimbocca. Dazu tranken sie eine halbe Flasche offenen Chianti. Nikki goss Jacks Glas voll und schüttete sich selbst nur einen Schluck Wein ein. »Da ich fahre, darfst du so viel trinken, wie du möchtest. Soll ich schon mal den Krankenwagen bestellen?«
»Willst du mich betrunken machen?«
»Das würde mir im Traum nicht einfallen.« Nikki lächelte und schaute Collins in die Augen. Jack war keineswegs hübsch.
Er hatte ein kantiges, wettergegerbtes Gesicht, und mit seiner rauen Stimme, dem zurückgekämmten Haar und den hellblauen Augen erinnerte er sie an George C. Scott. Jack strahlte Zuverlässigkeit und die Stärke eines alten Zugpferdes aus, das die Last problemlos bis ans Ziel brachte.
Sie hatten sich vor acht Monaten auf einer Einweihungsparty in Georgetown zum ersten Mal getroffen. Die Gastgeberin, Kelly Tuturo, war eine alte Kollegin aus der gemeinsamen Zeit bei Kanal 5. Jack kam spät und trank mit Kellys Mann Dave, der beim FBI arbeitete, am Küchentisch Bier. Kelly stellte sie einander vor. »Komm, unterhalte dich mit Jack. Er wird dir gefallen. Ein interessanter Typ.«
Nikki sträubte sich zunächst. Sie und Mark hatten sich achtzehn Monate nach Daniels Geburt getrennt. Eines Tages teilte ihr Ehemann ihr wie aus heiterem Himmel mit, dass er eine zweiundzwanzigjährige Krankenschwester kennen gelernt habe und nach Chicago umziehen wolle. Nikki hatte die Trennung noch nicht verwunden und wollte keinen Mann an sich heranlassen. Mark rief noch nicht einmal an und besuchte Daniel nie. Sie war vollkommen durcheinander, wütend und enttäuscht. Wie konnte ein Mann so mit seinem Sohn umgehen?
Wie konnte ein Mann, dem sie vertraut und in den sie sich unsterblich verliebt hatte, sein eigen Fleisch und Blut, ein wundervolles Baby, einfach im Stich lassen? Ein Kind, das ihn brauchte und vermisste, ein winziges Wesen, das den Verlust des Vaters spürte. In den ersten Monaten war es besonders schlimm. Daniel schaute ihr unschuldig ins Gesicht und sagte mit bebenden Lippen: »Daddy? Daddy gehen.« In diesen Augenblicken war der Schmerz schier unerträglich, und sie brach jedes Mal fast in Tränen aus.
Wenn sie Daniel in die Arme schloss und sagte: »Daddy hat uns verlassen, mein Schatz«, fing er sofort an zu weinen. Später ging sie über die Frage hinweg und lenkte Daniel ab, bis er anfing zu vergessen und begriff, dass sein Daddy nicht mehr wiederkommen würde. Als sie später von Marks Affären erfuhr, die er seit Jahren hinter ihrem Rücken gehabt hatte, konnte sie ihre Wut und Trauer kaum noch zügeln. Lange Zeit war es ihr unvorstellbar, eine neue Beziehung zu einem Mann einzugehen oder gar zu heiraten. Selbst heute gab es noch Tage, an denen Enttäuschung und Wut ihr erneut zu schaffen machten. Auch auf Kellys Party war sie nicht besonders guter Stimmung. »Ich habe wirklich keine Lust, irgendeinen Mann kennen zu lernen, Kelly.«
»He, ich will dich nicht verkuppeln. Du kannst dich doch ein bisschen mit ihm unterhalten.« Der leichte Vorwurf in Kellys Stimme entging ihr nicht. »Schätzchen, ich weiß, dass du eben erst geschieden wurdest und im Moment nicht viel von Männern hältst. Stimmt, es gibt ziemlich viele Arschlöcher, aber das ist bei Jack Collins nicht der Fall. Und er hat eine Menge durchgemacht, Nikki. Sei also nett zu ihm.«
Kelly legte dem Freund ihres Mannes gegenüber eine fürsorgliche, fast mütterliche Art an den Tag. Nikki nahm
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