Meade Glenn
Sohn einen Handkuss zu. Er winkte. »Tschüs, Mama.«
Sekunden später humpelte er mit rasselnden Ketten davon. Karla wurde von den Wärtern hinausgeführt.
Auf der Rückfahrt nach Sur war Karla Sharif aufgewühlt und erschöpft. Die Besuche im Gefängnis zehrten stets an ihren Kräften. Sie versuchte, das Gefühl der Verzweiflung zu bezwingen. Der Gedanke, dass Josef vielleicht noch viele Jahre im Gefängnis sitzen musste, und die quälende Enttäuschung, ihn nicht sehen zu dürfen, wann sie wollte, waren mehr, als sie ertragen konnte.
Es vergingen kein Tag und keine Nacht, an denen sie ihn nicht zusammengekauert in seiner winzigen Zelle im Geiste vor sich sah und sich um seine Gesundheit, seine Einsamkeit und Hilflosigkeit sorgte und sich fragte, ob er Schmerzen litt. Wie sollte ihr Kind gesund bleiben, wenn es dreiundzwanzig Stunden pro Tag in einer Zelle eingesperrt war? Sie hatte von arabischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen gehört, die Selbstmord begangen hatten, weil sie die Qual der strengen Gefangenschaft nicht länger ertrugen. Das Bild ihres Sohnes, der erhängt in seiner Zelle gefunden wurde, quälte sie oft.
Karla hing noch immer ihren trostlosen Gedanken nach, als sie die libanesische Grenze passierte. Nachdem sie etwa drei Kilometer in der von der Hisbollah kontrollierten Zone zurückgelegt hatte, beschrieb die Straße eine Biegung. Zu beiden Seiten ragten weiße Kreidefelsen in die Höhe, und hinter der Kurve blockierten zwei verdreckte Jeeps die Straße. Ein halbes Dutzend maskierter Männer, die mit Kalaschnikows bewaffnet waren, zwangen sie anzuhalten. Als einer der Männer auf sie zukam, kurbelte Karla das Fenster herunter.
»Aussteige n!«, befahl er ihr.
»Warum? Was ist los?«
»Mach, was ich sage, emraa. Keine Diskussionen.«
Karla folgte fassungslos dem Befehl. Einer der Männer sprang sofort in ihren Renault und fuhr ihn von der Straße. »Was soll das?«, fragte Karla entrüstet.
»Halt’s Maul!« Der Wachposten schwang drohend seine Waffe. »Mach einfach, was ich sage. Hier entlang.«
Zusammen mit einem seiner bewaffneten Kameraden führte er Karla den Berg auf der anderen Straßenseite hinauf. Als sie den Gipfel erreichten, kamen sie zu einer Lic htung. Im Schatten einiger Zedern saß ein Mann auf einem Felsbrocken und schälte mit einem schmutzigen Schnappmesser eine Apfelsine. Er war untersetzt und etwa Ende dreißig. Seine Lippen waren zu einem grausamen Grinsen verzerrt, und er hatte blutrünstige dunkle Augen. Sein boshafter Blick ließ erahnen, dass er zu großer Brutalität fähig war. Der Fremde trug einen zerknitterten Leinenanzug. Seine Hakennase, der pechschwarze Bart und der dunkle Teint wiesen auf einen Araber hin. Er zeigte auf einen Felsbrocken, der ihm gegenüberlag. »Setzen Sie sich.«
»Wer sind Sie? Warum hat man mich angehalten?«
»Hinsetzen«, befahl der bärtige Mann in arrogantem Ton.
Karla setzte sich auf den Felsen. Die Wachposten zogen sich zurück. Der Mann, der in einer Hand die geschälte Apfelsine und in der anderen das Schnappmesser mit dem Perlmuttgriff hielt, musterte sie. »Erkennen Sie mich nicht?«
»Nein.«
»Wir sind uns vor langer Zeit schon einmal begegnet. Mein Name ist Mohamed Rashid. Sagt Ihnen das etwas?«
Als Karla den Namen hörte, erinnerte sie sich. Eine flüchtige Begegnung vor vielen Jahren in Beirut. Er war Ägypter, ein islamistischer Terrorist, der für seine Grausamkeit bekannt war und einst geholfen hatte, die PLO-Trainingscamps in Libyen zu führen. »Ja, ich erinnere mich.«
»Eigentlich haben Sie sich kaum verändert. Sie sehen noch besser aus als damals.«
»Was wollen Sie von mir?«
Der Ägypter ging nicht auf ihre Frage ein, steckte sich stattdessen ein dickes Stück Apfelsine in den Mund und sog genüsslich den Saft aus der Frucht, der ihm über den Bart rann.
»Sie sind eine bemerkenswerte, interessante Frau, Karla Sharif.
Als Kind palästinensischer Eltern in Amerika geboren und als Zwölfjährige mit ihnen in den Libanon zurückgekehrt. Sie haben an der Amerikanischen Universität in Beirut studiert und sprechen fließend Englisch, Französisch und Arabisch.«
»Ich habe Sie etwas gefragt.«
»Ich bin noch nicht fertig. Wenn ich mich recht entsinne, sind Sie mit neunzehn der PLO beigetreten, weil Sie das Elend Ihres Volkes empörte. Später gehörten Sie zu den wenigen Freiwilligen, die das Privileg genossen, auf die Moskauer Patrice- Lumumba-Universität geschickt zu werden, um von den
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