Meade Glenn
im Wohnzimmer ein. Er fand den Schalter für die Klimaanlage, denn die Luft in der kleinen Wohnung war zum Schneiden dick.
Es war eine typische Junggesellenbude mit einem Schlafzimmer und einer Küche, einem Wohnzimmer und einem winzigen Bad. Unter einem vollgestopften Bücherregal neben dem Fenster stand ein Schreibtisch mit einer alten Reiseschreibmaschine. Darüber hing das Bild eines uralten Schienenbusses, der noch von einer holzbefeuerten Dampfmaschine angetrieben wurde. Dazu kam ein großer, gerahmter Druck der eingerissenen Berliner Mauer in der Nähe des Brandenburger Tores, mit der Menschenmenge, die die Bundesflagge schwenkte und jubilierte. Ein anderes Foto zeigte die zerstörte Gedächtniskirche bei Nacht. Daneben hingen einige Holzschnitzereien der Indios. Ein Ventilator war an einem Haken über dem Schreibtisch angebracht.
Auf einem der Regalbretter stand ein halbes Dutzend Fotos in schmalen Silberrahmen. Vermutlich seine Familie, dachte Volkmann. Eines zeigte eine große blonde Frau und einen südamerikanisch anmutenden Mann. Er lächelte strahlend, aber die Miene der Frau war ernst und zeigte keine Spur eines Lächelns. Ein silbergerahmtes Foto zeigte Erika Kranz, offenbar in einer bayerischen Gaststätte. Sie sah wesentlich jünger aus, trug das Haar länger und lachte in die Kamera. In der Hand hielt sie eine Steingutmaß mit Bier und hatte den Arm um einen jungen, lächelnden gutaussehenden Mann gelegt.
Volkmann betrachtete die junge Frau neben sich. Sie wirkte müde und erschöpft. Der lange Flug und die sieben Stunden Zeitunterschied zwischen Frankfurt und Asunción forderten ihren Tribut. Vermutlich dachte sie daran, wie sie das letzte Mal in dieser Wohnung gewesen war. Sie nahm das Foto vom Regal und betrachtete es schweigend.
»Rudi?« fragte Volkmann knapp.
Sie sah auf, und er bemerkte das verschmierte Maskara unter ihren blauen Augen. »Ja.«
Die junge Frau stellte das Foto wieder zurück und setzte sich still und traurig auf die Couch, während Volkmann die Wohnung untersuchte. Die Polizei war ziemlich unordentlich vorgegangen. Im Schlafzimmer waren die Schubladen noch offen und die Kleider durchwühlt. In der Küche hatte man die Schränke ebenfalls offenstehen lassen. In einem stand eine leere Flasche Scotch, in einem anderen eine ungeöffnete Flasche Wodka und ein paar Flaschen Limonade.
Als Volkmann wieder in das Wohnzimmer kam, stand das Mädchen am Fenster und blickte schweigend hinaus. Die Lichter der Stadt funkelten in der Dämmerung, und man hatte einen klaren Blick auf den Paraguay, auf dem Boote hin und herfuhren.
Als Volkmann näher kam, drehte sich Erika Kranz um. Dicke Tränen liefen ihr die Wangen hinab. Im nächsten Moment lag sie in seinen Armen, drückte ihren Kopf an seine Brust und schüttelte sich vor Schluchzen. Er hielt sie fest, bis sie sich etwas beruhigt hatte und sich wieder von ihm löste.
»Verzeihen Sie. Ich … ich kann an nichts anderes mehr denken. An die letzte Nacht, die ich hier mit Rudi gewesen bin.
Und an das, was der Polizist gesagt hat … Wie Rudi gestorben ist.«
»Es war ein schwerer Tag. Soll ich uns einen Drink machen?«
Sie nickte. Volkmann drehte sich um und ging in die Küche.
Der Wodka und die Limonade standen auf dem Couchtisch, eine Schüssel mit Eis dazwischen. Erika Kranz’ Stirn war mit Schweißperlen besetzt. Die Schuhe hatte sie ausgezogen, und Volkmann konnte einfach ihre langen, glatten Beine und ihren wohlgeformten Leib nicht übersehen. Er fühlte sich körperlich zu der jungen Frau hingezogen, und als er ihr nun gegenüber saß, streifte er unwillkürlich mit dem Blick ihre vollen, runden Brüste und die geschwungenen Hüften. Sie hatte denselben leicht gebräunten Teint wie einige der jungen Südamerikanerinnen, die er auf der Straße gesehen hatte. Er versuchte, an etwas anderes zu denken.
»Erzählen Sie mir etwas von Rudi.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Was Ihnen so einfällt.«
Die Miene der jungen Frau verriet ihre Trauer. »Er war ein gutherziger, freundlicher Mensch und ein guter Journalist. Und er liebte das Leben. Rudi lachte gern, ganz gleich, wie schlimm die Dinge auch standen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen noch erzählen soll.«
In der Polizeiakte, die Volkmann von Sanchez bekommen hatte, stand nicht viel. Zwei Seiten Durchschlagpapier, eigens ins Englische übersetzt, mit persönlichen Einzelheiten, politischen Neigungen, Alter, Herkunft. Volkmann wollte
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