Meade Glenn
die Geschichte lieber von der jungen Frau hören; er wollte wissen, ob es noch mehr gab, verborgene, private Dinge, die ein Mann für sich behält und nur einer Frau mitteilt. Vielleicht ein kleiner Hinweis, etwas, das ihn einen Schritt weiterbrachte.
Er holte ein Päckchen Zigaretten heraus, bot dem Mädchen eine an und gab ihr Feuer, bevor er seine anzündete.
»Erzählen Sie mir von Rudis Herkunft.«
»Sie meinen seine Familie?«
»Ja, von seiner Familie.«
Sie betrachtete einen Augenblick ihren Drink und sah dann hoch. »Rudis und meine Mutter waren Halbschwestern. Nach dem Krieg kamen sie noch als Kinder nach Argentinien, zu meinen Großeltern. Jahre später hat Rudis Mutter einen Paraguayer kennengelernt, der an der Universität von Buenos Aires Biologie studierte. Nachdem er sein Diplom gemacht hatte, heirateten sie und zogen nach Asunción, wo Rudi geboren wurde. Er war ihr einziges Kind.«
Sie spielte mit ihrem Glas und musterte die Fotos auf dem Regal. »Rudi ähnelte seinem Vater sehr. Der hat auch immer über das Leben gelacht. Rudis Mutter war ernster. Ich glaube nicht, daß sie wirklich glücklich gewesen ist.«
Volkmann betrachtete die blonde, hübsche Frau auf dem Foto.
Hübsch war sie, aber sie lachte nicht. »Warum nicht?«
Erika Kranz strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und sah ihn an. »Meine Mutter hat mir die Geschichte einmal erzählt. Sie und ihre Schwester haben als Kinder während des Krieges in Hamburg gewohnt. In einer Nacht wurde die Stadt mit Brandbomben angegriffen. Das war der schlimmste Luftangriff überhaupt. In den Luftschutzbunkern haben die Leute gebetet, und alle hatten Angst. Wenn eine Bombe in der Nähe gefallen ist, hat die Erde gebebt, und das Licht ist ausgefallen. In dem Durcheinander wurden viele Menschen erdrückt. Rudis Mutter war nur ein Kind und entsprechend verängstigt. Sie ist völlig verwirrt aus dem Bunker hinausgelaufen. Doch was sie draußen auf den Straßen gesehen hat, war noch schlimmer. Sie konnte es niemals vergessen.
Überall brennende Gebäude, verkohlte Leichen und das Inferno dieser grauenvollen Nacht. Viele Freunde und Verwandte sind gestorben. Danach hat sie sich in sich selbst zurückgezogen. Sie war ein empfindsames Kind, und die Erfahrung hat ihr furchtbar zugesetzt. Rudi sagte, daß sie diese Nacht an jedem Tag ihres Lebens neu durchlebte. Irgendwie ist sie immer ein trauriger Mensch gewesen.«
»Wie sind Rudis Eltern gestorben?«
»Mein Onkel hat seine Familie oft auf seine biologischen Exkursionen mitgenommen. Sie sind mit einem kleinen Flugzeug am südlichen Amazonas abgestürzt. Rudi war ebenfalls im Flugzeug, hat aber überlebt. Sie haben ihn vier Tage später gefunden. Er war blutüberströmt und hatte einen schrecklichen Schock. Daher stammt auch die Narbe in seinem Gesicht. Noch lange danach war er am Boden zerstört. Er hat uns oft in Deutschland besucht, weil wir seine einzigen Verwandten waren. Aber er konnte dort nicht leben, obwohl er die Sprache beherrschte. Ich glaube, daß Rudi die Deutschen zu streng und zu ernsthaft fand. Sein Volk waren die Paraguayer.«
Die junge Frau blickte in ihr leeres Glas. »Kann ich noch einen Drink bekommen?«
Volkmann schenkte ihnen beiden noch etwas ein und gab dann Eiswürfel dazu. »Warum ist Ihre Familie nach Deutschland zurückgekehrt?«
Volkmann sah sie aufmerksam an. Sie nippte an ihrem Getränk und hielt das Glas mit beiden Händen fest. »Meine Mutter hat meinen Vater in Buenos Aires kennengelernt und geheiratet. Er war ein Geschäftsmann, ein deutscher Immigrant und viel älter als sie. Aber er ist gestorben, als ich erst drei Jahre alt war, deshalb kann ich mich an ihn nicht so recht erinnern.
Meine Großeltern waren ebenfalls tot, also ist sich meine Mutter wahrscheinlich etwas verloren vorgekommen. Sie hat das Geschäft meines Vaters verkauft und beschlossen, nach Deutschland zurückzukehren. Sie hatte dort immer noch Verwandte und glaubte außerdem, daß ich dort besser studieren könnte. Nach meinem Diplom hat sie wieder geheiratet und ist nach Hamburg gezogen. Danach haben wir uns auseinandergelebt. Die ganze Familie ist in alle Winde zerstreut.
Aber Rudi und ich haben uns immer geschrieben. Er war immer wie ein älterer Bruder für mich.«
Sie wandte den Blick ab, doch Volkmann hatte die Tränen in ihren Augen gesehen. Er trank einen Schluck und betrachtete sie. Etwas an ihr ließ in ihm den Drang aufkommen, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, aber er
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