Mecklenburg-Vorpommern. Anleitung für Ausspanner
unverständlich sind dem Uneingeweihten die Dialoge, so klar ist die Sprache im
Norden. Abgesehen von ein paar Vokabeln, die sich auch anderswo herumgesprochen haben. Der »Feudel« zum Beispiel, mit dem der Wischlappen für den Boden
bezeichnet wird. Ein hübsches Wort, verglichen etwa mit dem sächsischen »Scheuerharder«. Ansonsten dürfte es selbst Ureinwohnern nicht leicht fallen,
sprachliche Auffälligkeiten zu benennen.
Verständigung in Mecklenburg und Vorpommern stellt also kein Problem dar? Mitnichten. Denn natürlich gibtes auch in dieser Gegend
Eigenarten und Auffälligkeiten. Ein Freund erzählte mir einmal von einer Begebenheit tief im Landesinneren. Der junge Mann, aus dem Ruhrgebiet gebürtig,
blieb irgendwo zwischen Käsow und Roggow, zwischen Gutow und Ganschow mit dem Auto liegen. In seiner Not fand er eine kleine Werkstatt, wo ihm auch prompt
geholfen wurde. Am Ende war das Gefährt heil – aber mein Freund am Boden zerstört. »Ich habe mich in meinem Leben noch nie so erniedrigt gefühlt«, klagte
er. Was war geschehen? Die Jungs von der Werkstatt hatten ihn beim Kundengespräch ausschließlich in der dritten Person Singular angesprochen. »Na, was hat
er denn für ein Problem?« – »Hat er die Fahrzeugpapiere mit?« – »Kann er mal den Motor anlassen?«
Also doch Verständigungsprobleme. Wer den Menschenschlag kennt, der weiß, dass ihm Ironie nicht fremd ist, im Gegensatz zur Arroganz. Und so ist auch
die Anrede in der dritten Person eher in diese Richtung zu deuten: als ironisch-vertraulicher Umgang mit dem Fremden. Nicht als geringschätzige
Herrschaftssprache. Ein Phänomen, das einem nicht so sehr im Supermarkt begegnet, sondern eher in beschaulicher Umgebung, beim Gespräch übern Gartenzaun
oder im kleinen Geschäft um die Ecke, wo der Inhaber noch selber hinterm Tresen steht. »Na, hat er sich schon was ausgesucht?« Man dreht sich um und
stellt fest: Ich bin allein im Lande. Diese sprachliche Eigenart stellt ein Entgegenkommen des Gesprächspartners dar. Aber er ist sich nicht sicher und
bleibt deshalb auf dem Weg vom »Sie« zum »Du« beim »Er« stecken.
Bei Weitem nicht die einzige Eigenart. Manchmal neigen Mecklenburger und Vorpommern dazu, die Satzkonstruktionen eigenartig zu zerrupfen. Einmal
erlebte icheinen kurzen Dialog in einer Schulklasse. Mitschüler Jan hatte auf dem Boden ein Taschentuch gefunden. Er hielt es in die
Höhe und rief in die Runde: » Wem sein Taschentuch ist das?« Mitschülerin Mareike konnte auf jeden Fall helfen und zeigte auf ihren Nachbarn:
» Ihm seins!«
Möglicherweise spricht daraus eine gewisse Skepsis dem Genitiv gegenüber. Tatsächlich sind in Mecklenburg und Vorpommern nicht nur die Genitive
gefährdet, sondern auch alle anderen Fälle, die die deutsche Sprache bereithält. Im täglichen Umgang treibt das Blüten, da werden einem die Knie
weich. Ein Freund berichtete von einer Begebenheit auf einer Baustelle. Der Polier wies die drei Lehrlinge an, sich Eimer zu schnappen und mitzukommen. Er
tat dies mit dem prägnanten Satz: »Du, er, ihm und die Eimers. Ihr kommt alle mit.« Unser Freund muss wohl ein wenig irritiert ausgesehen haben. Sein
Kollege stupste ihn darauf aufmunternd an: »Das kriegen wir alles im Griff rein!«
Dieser Umgang mit der Sprache mag auf die Charaktereigenschaften der Menschen schließen lassen. Es dauert eben eine Weile, bis man einen Satz, eine
Handlung oder einen Vorgang in seine Einzelteile zerlegt hat. Vielleicht ist die Langsamkeit, die den Mecklenburgern und Vorpommern nachgesagt wird, im
Grunde nur eine Art der Genauigkeit. Und so wie Homer Simpson einmal eine neue, zwischen Frühstück und Brunch gelegene Mahlzeit entdeckte, so erfreuen
sich die Leute hier selbst an elementaren Vorgängen und sagen zum Beispiel: »Nu gah sitten!« (»Geh dich setzen!«)
Aber trotz dieser Ausnahmen bleibt es dabei: Insgesamt benehmen sich die Menschen in Deutschlands Nordosten sprachlich eher unauffällig. Call Center
werden angeblich deshalb hier so gern gegründet, weil den potenziellenMitarbeitern nicht erst ein schwerer Dialekt ausgetrieben werden
muss. Tatsächlich ist das Hochdeutsche die Alltagssprache, abgesehen von Eigenarten wie den typisch norddeutschen breiten Vokalen. Eine für Außenstehende
mitunter überraschende Tatsache. Als ich 1990 nach Bremen ging, um dort in den Sommerferien zu arbeiten, erntete ich immer Erstaunen, wenn es um meine
Herkunft
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