Mecklenburg-Vorpommern. Anleitung für Ausspanner
ging. »Du bist aus dem Osten? Du sprichst gar nicht so!« In der Wahrnehmung war der Dialekt von Walter Ulbricht bis zu den Teilnehmern der
Leipziger Montagsdemonstrationen in den Nachrichten so präsent, dass es für Außenstehende zwischen Ostsee und Erzgebirge nur das Sächsische gab.
Wie in Hamburg oder Lübeck gilt zwischen Boltenhagen und Binz, zwischen Waren und Warnemünde das Niederdeutsche als heimliche Landessprache. So
heimlich, dass kaum noch jemand davon weiß. »Ick snack Platt. Du ok?«, liest man immer mal auf Stickern an Autos. Die Antwort darauf lautet vor allem bei
Jüngeren meist: »Nein.« Und zwar auf Hochdeutsch. Selbst wenn hier und da auch unter jungen Leuten plattdeutsche Brocken ins Gespräch geworfen werden –
mit dem Verstehen ist es nicht weit her. Als Kinder mussten wir sonntags zum Frühstück Plattdeutsch-Sendungen hören, in denen andauernd Witze erzählt
wurden. Wir lauschten aufmerksam, verstanden immer gerade so die Geschichte, die sich langsam aufbaute. Aber die Pointe war in der Regel ein mehrdeutiger
und für uns unverständlicher Wortwitz. Die Eltern schlugen sich auf die Schenkel, und wir wollten lieber spielen als Platt lernen.
So stirbt die Sprache langsam aus, auch wenn etliche trotzige Niederdeutsch-Vereine versuchen, ihrenNiedergang aufzuhalten. Die
Hoffnungen ruhen dabei vor allem auf den schmalen Schultern von Kindergartenkindern, die vormittags plattdeutsche Reime lernen, um sie nachmittags in
Seniorentreffs aufzusagen. Mehr als Lautmalereien sind das in der Regel nicht, aber die Rentner haben trotzdem Tränen in den Augen. Es ist aber auch zu
schön, wenn die Kleinen ein niederdeutsches Lied anstimmen. »Dat du mien Leewsten büst« zum Beispiel, ein einfaches Volkslied, das als heimliche Hymne
Mecklenburg-Vorpommerns gilt. Was erstaunlich ist, fordert doch der Text zu vorehelichem Sex in der Wohnung der Eltern auf. Vielleicht ist es doch ganz
gut, dass die Kleinen nicht wissen, was sie da singen.
Sinnenfremd sind die Mecklenburger und Vorpommern jedenfalls nicht. Die Sprache spiegelt das in unendlich vielen Zoten wider. Wenn plattdeutsche Witze
erzählt werden, sind sie in der Regel anzüglich. Dennoch ist das heutige Platt für manchen Wissenschaftler keine eigenständige Sprache mehr, sondern nur
ein Dialekt ohne einheitliche Grammatik. Außerdem spricht jede Region ihr eigenes Platt. Das Wort »löhmig« zum Beispiel, es bedeutet »trüb« auf
Flüssigkeiten bezogen, ist meiner in Mecklenburg-Strelitz aufgewachsenen Mutter geläufig, meinem Warnemünder Vater aber nicht. Ein bisschen ist in diesem
Dialekt die Zeit stehen geblieben, und in dieser Hinsicht stimmt, dass in Mecklenburg-Vorpommern manche Dinge etwas später kommen als anderswo. Auf die
sogenannte »zweite Lautverschiebung« jedenfalls, die anderswo ab dem achten Jahrhundert den »Appel« zum »Apfel« machte, warten wir heute noch. Vielleicht
liegt den Leuten deshalb die Zunge, die auf Platt »Tung« heißt, so schwer im Mund.
Das gilt übrigens nicht nur fürs Deutsche. Denn auch in Fremdsprachen wird in Mecklenburg und Vorpommern viel geschwiegen. Während es
zum Beispiel in Skandinavien völlig normal ist, dass man sich als Tourist in seiner Landessprache oder wenigstens in Englisch verständigen kann, muss man
sich in MV als Ausländer aufs Gestikulieren verlegen. Speisekarten in Fremdsprachen? Kellner, die Bestellungen auf Englisch aufnehmen? Passanten, die,
wenn sie auf Ausländisch nach dem Weg gefragt werden, mehr als nur freundlich mit den Schultern zucken oder den Frager anbrüllen, als gäbe es nur ein
akustisches, kein sprachliches Problem? Fehlanzeige. Dabei ist die Nähe des Niederdeutschen zum Englischen offenbar. Selbst in Schweden oder Dänemark
erwiesen sich Brocken von Platt als hilfreich, wenn die Sprache denn noch jemand spräche. Die Russisch-Monokultur an allgemeinbildenden DDR-Schulen hat
nicht nur das Plattdeutsche gründlich verkümmern lassen, sondern auch die Verbreitung des Englischen verhindert. Vielleicht werden aus diesem Grund Call
Center in Mecklenburg-Vorpommern nach kurzer Zeit wieder geschlossen.
Wie so oft in der Region muss man auch bei der niederdeutschen Sprache die Blütezeit weit in der Vergangenheit suchen. Denn das war sie einmal – ein
Medium zum Transport neuer Ideen. In der Zeit der Hanse sprach man Niederdeutsch sogar im Ausland, und eine geradezu umstürzlerische Funktion kam ihr in
der
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