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Mecklenburger Winter

Mecklenburger Winter

Titel: Mecklenburger Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris P. Rolls
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mit der Nummer 222.
    Aus dem Augenwinkel bemerkte Kai dessen verkniffenes Gesicht. Er hörte den rasselnden Atem. Erledigt , dachte er befriedigt. Der hat keine Reserven mehr. Auf zu Nummer 190. Dieser lief jetzt etwa zehn Meter vor ihm. Unaufhaltsam kam Kai näher. Die Menge jubelte, feuerte sie beide an. Das Geräusch war in Kais Ohren, er nahm es nur entfernt wahr. Irgendwo in der bunten, gesichtslosen Menschenmenge war ein ganz besonderes Gesicht, mit wundervollen Augen, die einzig ihm folgen würden. Jemand, der mit jedem Atemzug ihn als Ersten sehen wollte.
    Nummer 190 warf einen Blick über die Schulter. Zu spät, dachte Kai süffisant lächelnd, ich bin an dir dran. Einen Sekundenbruchteil kostete seinen Konkurrenten der Blick zurück. Genug Zeit. Kai war heran. Die letzte Runde. Nummer 190 beschleunigte ebenfalls. Er lehnte den Oberkörper vor. Schulter an Schulter rannten sie auf das Ziel zu. Kais Herz pumpte in vertrauter Stärke. Adrenalin trieb heiß durch seine Adern. Er war im Rausch des Laufens und nichts konnte ihn mehr aufhalten. Die Menschenmenge wurde zu einem flirrenden, bunten Durcheinander, einer Kulisse, die er nur als Teil seines Rausches wahrnahm. Er richtete den Blick auf das Zielbanner und das dünne, rote Band, welches über den Weg gespannt war. Das Band, welches sein Körper als erstes zerreißen würde. Blut rauschte in Kais Ohren. Seine Füße schienen kaum noch den Boden zu berühren. Er kam sich seltsam abwesend vor, ein Beobachter in seinem Körper. Die Welt verschwamm, wurde zu einem Tunnel mit dem Zielband am Ende. Irgendwo dort würden ihn auch ein paar graugrüne Augen erwarten, eine Umarmung, ein Kuss.
    Etwas streifte seine Hüfte, wickelte sich um seinen Bauch. Eine flüchtige Berührung und um ihn lauter Jubel. Es fiel ihm schwer, seinen Beinen den Befehl zum Aufhören zu geben, wieder Kontrolle über seinen Körper zu erlangen. Er war im Ziel. Und wo war Leon?
    3:06 blinkte die rote Anzeige hinter der Ziellinie. Kai brauchte einen Moment, um die Daten zu verarbeiten. Seine Hand ging automatisch an seinen Pulsmesser und drückte die Stopptaste, während er endlich abbremste. Fremde Gesichter ringsum, die ihn anstrahlten, ihm etwas zuriefen. Der Atem brannte in der Lunge und er holte mit jedem Atemzug tief Luft, um die Sauerstoffschuld der letzten anaeroben Belastung auszugleichen. Ja, er hatte es geschafft. Nummer 190 klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und Kai schüttelte seine Hand, die von Nummer 222 und anderer Läufer, die nach und nach ankamen. Endlich entdeckte er Dirks große Gestalt, der mit Susanne im Schlepptau herbeigeeilt kam.
    „Großartig. Einfach toll.“ Susanne freute sich und reichte ihm ein Handtuch, doch Kai sah sie kaum an, versuchte stattdessen einen Blick auf Leon zu erhaschen, der ihr folgen musste. Doch er war nicht da. Kalter Schreck durchfuhr Kai, den man ihm wohl zu genau ansah, denn Susanne lachte ihn offen an. „Keine Sorge, er ist uns nicht abgehauen oder verloren gegangen. Leon hilft Basti mit Lars, der so gefrustet war, dass er sich am liebsten gleich in den See gestürzt hätte. Ich glaube, die beiden haben ihn allerdings gerade noch davon abgehalten.“ Lächelnd nahm sie ihn in den Arm und flüsterte ihm zu: „Der Kleine ist ja so verschossen in dich, der hat sich beinahe die Fingernägel abgekaut, als du nach vorne gegangen bist.“
    Wohlige Wärme durchströmte Kai, paarte sich mit dem Endorphin in seinem Körper, wälzte sich ekstatisch mit dem Adrenalin und gab ihm einen Höhenflug, wie er ihn nur selten erlebte. Sein Leon hatte mitgefiebert und ihn siegen sehen. Er wollte so schnell wie möglich zu ihm, ihn umarmen, hochheben, herumschleudern und die überquellenden Glücksgefühle herausschreien. Ganz blöde Idee. Immerhin handelt es sich um Leon, der nur vor dir zugibt, schwul zu sein . Kai wusste instinktiv, dass mehr als eine freundschaftliche Umarmung nicht drin war.
    Susanne reichte ihm seine Regenjacke und gemeinsam gingen sie zum Parkplatz zurück, wo Kai sich umziehen konnte. Leider gab es bei diesem Lauf keine Duschen, dennoch wollte Kai zumindest rasch in trockene Klamotten schlüpfen. Es regnete stärker und wenn er nicht aufpasste, würde er sich schnell verkühlen.
    Bei den Autos trafen sie Lars, Basti und natürlich Leon, der ein wenig verloren neben den beiden zankenden Männern stand.
    „Dämlack. So was passiert nun mal, das ist nicht das Ende der Welt. Du brauchst dich gar nicht in Selbstmitleid suhlen“,

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