Mecklenburger Winter
perfekt, so wie er ist. Er darf sein, wie er ist.“ Sie sah ihn an, den Mund ganz leicht geöffnet. „Können Sie das von sich behaupten, dass Sie ihr eigenes Kind bedingungslos lieben, wie er nun mal ist? Nämlich schwul?“
Ihr Mund öffnete sich weiter, doch kein Ton kam heraus. Sie verschloss ihn und senkte den Blick. Ihre Schultern sackten nach vorne, doch Kais Vorrat an Mitleid war aufgebraucht. Die volle Dröhnung hätte ohnehin eher Leon zugestanden. Schweigen breitete sich in der kleinen Küche aus. Kai fühlte sich zappelig, voll innerer Unruhe. Es war ihm kaum noch möglich, den Raum mit dieser Frau zu teilen. Wenn Leon jetzt kam, dann …
„Leon weiß nichts davon, richtig?“, erkundigte er sich. Sie schüttelte abermals heftig den Kopf. „Du lieber Gott, nein. Sie dürfen es ihm nicht erzählen. Niemals. Er darf nicht wissen, was er für einen Vater hatte. Er soll sich nicht dafür schämen müssen.“ Kai stieß die Luft aus. Er fühlte sich leer, ausgebrannt. Und er musste dringend hier raus. Draußen fuhr ein Auto vor. Leon, der von der Schule heimkam. Er darf nicht wissen …
„Ist das Leonard?“, fragte Anneliese und wischte sich hastig über das Gesicht. Kai nickte. Seine Gedanken rasten kreuz und quer. Er stand auf und ging zur Tür.
„Ich sage ihm, dass Sie hier sind“, erklärte er. Anneliese sah ihn erschrocken an, doch ehe sie es aussprechen konnte, versicherte er: „Ich werde es ihm nicht verraten. Diese Last tragen Sie. Es ist an Ihnen, ihm endlich die Wahrheit zu sagen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er in den Flur. Einmal Leon in den Arm nehmen, einmal ihn drücken. Ich brauchte das jetzt. Das und … Laufen.
„Hey.“ Leon begrüßte ihn lächelnd, als Kai die Tür öffnete. Augenblicklich erlosch es. „Alles okay?“ Kai schüttelte verneinend den Kopf. Rasch zog er Leon an sich, atmete tief seinen Duft ein, schlang seine Arme so fest um ihn, dass er ihn fast erdrückte. „Deine Mutter ist hier. In der Küche. Ihr könnt ungestört reden, ich gehe laufen.“ Er gab Leon frei, wandte sich hastig um und verschwand, um sich umzuziehen.
Er wollte nicht dabei sein, konnte es nicht. Nicht einmal für Leon. Er würde keine weiteren Lügen ertragen. Kais Kopf würde zerspringen, seine Zunge einen bestialischen Mord begehen, wenn er blieb. Was auch immer Anneliese ihrem Sohn sagen wollte, sollte sie es tun. Leon musste seinen Weg weiter gehen und er würde nach der letzten Aktion ganz bestimmt nicht zurückgehen.
Während Kai im Flur in seine Laufschuhe schlüpfte, vernahm er die gedämpften Stimmen aus der Küche. Nur einen Sekundenbruchteil überlegte er, sich von Anneliese zu verabschieden, da hatte er auch schon die Klinke hinabgedrückt und war in die lauwarme Abendluft getreten.
Jeder Nerv vibrierte, jeder Muskel zuckte in dem Wunsch zu laufen, laufen, laufen und den Kopf von den Gedanken zu befreien. Zu viel Drama, zu viel. Kai versagte in der Vorstellung, wie es für Leon all die Jahre gewesen sein musste. Und für Burghardt.
Der Verdacht lag nahe. Kais Füße trugen ihn rasch voran, aus Hagenow hinaus in den Kiefernwald. Der Boden federte, die Luft war erfüllt vom Duft der erwachenden Kiefern und dem Singen der Vögel. Nur seine Gedanken wollten nicht zur Ruhe kommen. Was war wohl zwischen ihm und Josef gewesen? Gute Freunde und vielleicht sogar mehr? Von Josefs Seite aus? Einseitig oder beidseitig? Hatte dieser Gefühle für Burghardt entwickelt oder der für ihn? Und wie waren die jungen Männer vom Lande damit umgegangen? War es zwischen ihnen zu Vorfällen gekommen?
Endlos lang erstreckte sich der sandige Weg vor Kai. Er musste nicht darauf achten, wohin seine Füße ihn trugen, der Boden war eben. Sein Atem ging gleichmäßig und sein Körper fühlte sich endlich wieder gut an. Sein Kopf arbeitete hingegen unablässig weiter. War Josef womöglich eifersüchtig gewesen? Auf seinen Freund, der an seiner Stelle eine hübsche junge Frau geheiratete hatte, ein anerkanntes Leben führte? Eifersucht in welcher Form hatte zu seiner Tat geführt? Hatte er eher Burghardt treffen wollen, oder Anneliese? So viele Fragen, so viele mögliche Antworten. Was für ein verdammtes Geflecht aus Komplikationen. Und mitten darin ist Leon gefangen.
Sah Burghardt Josef in Leon oder nur dessen unerwünschte, verbotene Neigung? Hatte er Probleme mit dessen Anblick, weil er in ihm seinen Jugendfreund wiedererkannte, dem er Gefühle entgegengebracht hatte, oder war es eher
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