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Mecklenburger Winter

Mecklenburger Winter

Titel: Mecklenburger Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris P. Rolls
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widerfahren soll?“
    Mit offenem Mund starrte Kai sie an, für den Moment tatsächlich fassungs- und sprachlos. Sie meint das wirklich ernst. Absolut. Konsterniert schüttelte er den Kopf. Ihm war danach zu brüllen, doch er zwang sich zur Ruhe. Das brachte eh nichts. Ignoranz begegnete man nicht mit Wut.
    „Nicht jeder, der schwul ist, bekommt automatisch Aids“, korrigierte er mit beherrschter Stimme. Plötzlich überkam ihn ein erdrückendes Gefühl von Frustration. Was redete er da? All die Jahre hatte Leon mit Menschen verbracht, die überhaupt gar nichts davon wussten, wie er tickte oder sich fühlte. Er würde Annelieses Meinung nicht innerhalb weniger Minuten ändern können. Seufzend fuhr sich Kai durch die Haare. „Warum erzählen Sie mir das eigentlich? Was erwarten Sie nun von mir? Soll ich schweigen und Leon heimschicken, damit er sich noch mehr von diesem Blödsinn anhören muss?“
    Leons Mutter schüttelte den Kopf. Sie brauchte einen Moment, um zu antworten, ihre Finger fuhren nervös über die Tischplatte. „Sie sagten mir, dass Sie meinen Sohn lieben.“ Sie zögerte und mied Kais Blick. „Aber logisch. Ich bin völlig vernarrt in Leon. Ich liebe ihn über alles. Er ist mir enorm wichtig.“ Kai unterstrich seine Worte mit einer Geste.
    Sie lächelte und sah ihn nun doch an. „Ich glaube es ihnen. Er ist ein besonderer Mensch, ein wirklich guter Junge.“ Seufzend faltete sie die Hände zusammen. „Dann verstehen Sie doch auch, dass er ein solches Leben hier nicht führen kann. Es … passt nicht zu ihm, nicht zu uns. Jeder würde über ihn reden, sich den Mund zerreißen. Wir haben einen Hof zu führen, das ist unser Leben und auch Leonards. Das andere ... ist doch keine Zukunft, das hat er nicht verdient.“
    Kai bekam Schnappatmung. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, jemand hätte ihm den Stuhl weggezogen und zusätzlich ein tiefes Loch gegraben, in welches er stürzte. Natürlich hörte er solche Sachen nicht zum ersten Mal. Sehr ähnliche Worte hatte seine eigene Mutter gebraucht. Und sein Vater. Vielleicht hatte er deshalb gerade ein Déjà-vu. Vielleicht behielt er deswegen auch die Nerven. Seine Ruhe überraschte ihn selbst. Schwer atmend fixierte er die Frau, die vorgab ihren Sohn zu lieben und ihn zwingen wollte, sich ein Leben lang selbst zu verleugnen, um angepasst leben zu können.
    „Sehen Sie mich an: Sehe ich etwa unnormal oder unglücklich aus? Habe ich ein schlechtes Leben? Bestimmt gibt es so einige, die hinter meinem Rücken tratschen. Na und? Ich bin, was ich bin. Wem es nicht passt, muss nicht mit mir klarkommen.“
    „Aber Leonard wird nie Kinder bekommen können, keine Frau haben, die für ihn sorgt …“ Annelieses Stimme enthielt einen flehenden Unterton. „Dafür einen Mann, der ihn wirklich liebt“, unterbrach sie Kai grob. Der leise köchelnde Zorn war noch da, verborgen unter seinem scheinbaren Gleichmut. „Der ihm all die Sicherheit gibt, die er immer entbehren musste, der ihm Mut macht und bedingungslos zu ihm steht.“ Ihre Lippen zitterten, die Knöchel der Finger traten weiß hervor. „Sie wollen ihm ein normales Leben verwehren? Sind sie so egoistisch?“
    „Egoistisch?“ Kai rang abermals nach Luft. Er kam nun doch in Fahrt, die Wut beschleunigte seine Zunge und Gedanken. So schnell würde er jetzt nicht aufhören. „Sie nennen mich egoistisch?“
    „Nein, ich ...“ Sie rang nach Worten. „Verstehen Sie doch: Diese Art zu leben passt nicht hierher. Genau deswegen hat Burghardt versucht, zu verhindern, dass Leonard so wird.“
    Ich vermute da ganz andere Gründe, dachte Kai und verschloss gerade noch rechtzeitig den Mund. Er wusste sicherlich mehr über die Ursachen von Homophobie, als Leons Mutter, die sich zudem gedanklich kaum jemals damit auseinandergesetzt hatte, dass ihr Mann ebenfalls eine gewisse, verdrängte Neigung haben könnte. Was tatsächlich hinter dem ominösen Racheakt Josefs gestanden hatte, darüber konnten wohl nur dieser oder Burghardt Auskunft geben. Oder auch nicht. Anneliese war auf jeden Fall die falsche Person, seinen Verdacht zu äußern.
    „Sie haben mich gefragt, ob ich Leon liebe.“ Kai zwang sich, die Frau anzusehen, sich seine Aufgewühltheit nicht anmerken zu lassen. „Oh ja, das tue ich. Ich liebe ihn. So sehr, dass ich ihn gegen jeden und alles verteidigen würde, alles machen würde, damit er glücklich ist. Dafür erwarte ich nicht, dass er sich verbiegen muss oder mir etwas vorspielt. Er ist

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