Mecklenburger Winter
konnte ermessen, wie viel Liebe dahintersteckte. Er verstand auch, wie hart es für diesen gewesen sein mochte, den fremden Sohn aufwachsen zu sehen, welches Opfer er gebracht hatte, für den Sohn seines schwulen Jugendfreundes. Es blieb die unumstößliche Tatsache, dass Leon hatte büßen müssen, er die Zielscheibe der Unsicherheit, vielleicht des Hasses, des Unverständnisses geworden war.
Warum hatte Burghardt Leon so viel Furcht entgegen gebracht? Homophobie im wahrsten Sinne des Wortes: Er hatte panische Angst davor gehabt, dass dieser sich als schwul entpuppen könnte. Warum? Weil damit ihr wohl gehütetes Geheimnis hätte auffliegen können? Und die Bilder? Wieso hatten die ihn so ausrasten lassen?
„Niemand kann ermessen, was er für uns beide getan hat. Gott es muss so schwer für ihn sein.“ Anneliese sah Kai aus rotgeweinten Augen an und gab ihm unwissentlich die Antwort: „Leonard sieht Josef so ähnlich. Jeden Tag, den er älter wird, ein wenig mehr. Verstehen Sie, wie schwer es für ihn sein muss?“ Oh ja, Kai verstand. Viel, viel mehr als selbst Anneliese, und das Wissen wollte ihn schier erdrücken.
Wie zur Hölle hat Leon nur überlebt und konnte der wunderbare Mann werden, den ich liebe? Himmelherrgottnocheinmal. Was für eine verfluchte Scheiße.
59 Falsche Liebe
Kai gab einen undefinierbaren Laut von sich. Er wusste nicht, was er gerade fühlte. Unbändige Wut, Verachtung und Abscheu drängelten sich mit Mitleid, Entsetzen und tiefer Besorgnis in einem einzigen kleinen Raum, seinem Herzen, zusammen. Er wollte schreien und heulen, Vorwürfe machen und wusste dennoch genau, dass diese unsinnig waren.
Das Schicksal war mitunter einfach nur grausam.
„Himmel“, entkam es ihm. Sein Verstand sortierte und verwarf tausend mögliche Worte, einigte sich schließlich auf das, was ihm gerade durch den Kopf schoss: „Wie hat Leon es nur geschafft, kein amoklaufender Psychopath zu werden?“ Anneliese sah ihn mit aufgerissenen Augen an, die Lippen bebten und ihr Gesicht wurde plötzlich weiß. „Aber nein, Sie verstehen das völlig falsch. Ich liebe meinen Sohn. Sehr sogar und Burghardt doch auch. Es war für ihn ein solcher Schock, dass Leonard womöglich ...“ Hastig brach sie ab und schüttelte den Kopf. „Er hat es doch nur gut gemeint, wollte verhindern, dass Leonard wie sein … wie Josef wird. Er sollte es gut haben, ein normales Leben führen können und ...“
Kai schnaubte empört, doch ehe er klarstellen konnte, dass an Leon nichts unnormales war, sondern an ganz jemand anderem etwas nicht richtig tickte, fuhr sie auch schon fort: „Er liebt ihn wirklich, sonst hätte er doch nie so sehr drauf geachtet, dass Leon nicht auf die falsche Bahn gerät. Er ist so stolz auf ihn. Leonard ist ein sehr guter Reiter und sportlich höchst erfolgreich und er ...“
„Deshalb wird ihm auch sein geliebtes Pferd genommen“, knurrte Kai. Burghardt liebte Leon? Völlig unmöglich. Niemals würde er ihn dann so behandeln. „Wissen Sie, wie sehr ihn das getroffen hat?“ Mit sichtlicher Verwirrung blickte sie ihn an und schüttelte energisch den Kopf. „Doch nur, weil er ein wirklich gutes Angebot bekommen hat und wir das Geld dringend benötigten. Leonard weiß das, er hat es akzeptiert. So ist das eben.“
„Was blieb ihm anderes übrig? Überlegen Sie doch mal: Wann hat Leon sich jemals gegen seinen … gegen ihren Mann gestellt?“, fragte Kai aufgebracht. „Er hat sich geduckt, geschwiegen und alles mit sich machen lassen, habe ich Recht? Sehen Sie, ich kenne ihn gewiss nicht so lange wie Sie, aber ich weiß eine Menge von ihm. Vor allem, dass er ein wunderbarer, sehr sensibler Mensch ist, dem jegliches Selbstvertrauen fehlt, der lieber erduldet, als den Mund aufzumachen und kreuzunglücklich ist, weil er nicht sein darf, was er nun mal ist. Verdammt, er ist schwul. Er liebt einen Mann und er darf sich nicht einmal den Hauch dessen bei seinen eigenen Eltern anmerken lassen? Wie würden Sie sich fühlen, wenn sie sich über so viele Jahre selbst hätten verleugnen müssen? Meine Güte, als wir uns kennenlernten, traute sich Leon nicht einmal das Wort schwul zu denken.“
Annelieses Augen bewegten sich unruhig. Unsicher sah sie Kai an, ihre Stimme war leise: „Wir haben ihn doch nur davor geschützt. Er sollte nicht so werden. Es erschwert ihm doch alles. Und sehen Sie, was aus Josef geworden ist: Diese furchtbare Krankheit hat ihn getötet. Ist es etwa das, was auch Leonard
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