Mecklenburger Winter
anscheinend immer und war für Kai bereits untrennbar mit Leon verbunden. Warum muss alles an ihm nur so verdammt klasse sein?
„Wie viele Kilometer radelt man denn da?“ Leons Frage fing Kais abschweifende Gedanken wieder ein. „540“, kam die Info von Angie. Leon schüttelte den Kopf. „Echt!“, bekräftigte sie. „Völlig verrückt die Typen, ich weiß. Wenn ich mehr als zehn Kilometer wo hin muss, nehme ich das Auto, aber ihm macht es scheinbar sogar Spaß.“ Sie lachte auf und Leons Blick wanderte zu dem selbstgefällig schmunzelnden Kai.
„Bis morgen“, verabschiedeten sich zwei Kunden bei Kai und Angie, als sie an ihnen vorbeigingen. „Bis dann“, winkte ihnen Kai zu und konzentrierte sich auf das Fotoalbum. Noch immer standen sie zu dritt sehr dicht beieinander und Kai sah keinen Grund, das zu ändern.
Auf den folgenden Fotos war es schon dunkel. Kai dachte zurück, an die verflucht lange Nachtstrecke auf dem Fahrrad in der Dunkelheit. Stundenlang, immer die gleiche Strecke. Irgendwann hatte er Halluzinationen gehabt, sah Autos sich bewegen, die am Straßenrand geparkt waren. Aber er war immer weiter gefahren, angefeuert von den Leuten drumherum, gelegentlich begleitet von Betreuern auf dem Fahrrad neben ihm.
„Und dann auch noch Laufen?“, erkundigte sich Leon konsterniert. „Ohne Pausen dazwischen?“
„Ab und an hält man schon mal an“, erklärte Kai, während sie bei den Fotos vom Samstag angelangt waren. „Manche schlafen auch zwischendurch ein paar Stunden. Aber wenn du vorne mitmachen willst, dann hältst du die Pausen eben kurz.“ Er zumindest wollte der Beste sein, immer vorne mitmachen. „Da zum Beispiel“, er deutete auf ein Foto, auf welchem er in einem Stuhl saß, in warme Decken eingehüllt Nudeln aß und seine Beine massiert bekam. „Ab und an braucht man was Warmes zu essen. Das geht alles nur mit einem tollen Team zusammen. Meine Clique war da einfach klasse.“
Auf seine Freunde Lars, Basti, Susanne und Dirk, war Verlass. Sie hatten ihn die ganze Zeit begleitet, ihn aufgebaut, als er vor Schmerzen in den Waden nicht mehr laufen konnte und eine Runde fast nur gegangen war. Oder zuvor, als ihn die Rückenschmerzen beinahe zur Aufgabe gezwungen hatten und er die letzten sechzig Kilometer nur stehend auf dem Fahrrad absolviert hatte.
„Da wurde es endlich hell“, kommentierte Kai die nächsten Fotos. „Vierzehn Stunden bin ich da noch gelaufen. War aber ehrlich gesagt das, was mir am leichtesten gefallen ist. Hundert Kilometer war ich auch vorher schon mal gelaufen.“ Leon sog die Luft ein, starrte ihn erneut fassungslos an. „Unglaublich.“
„Hier war es anders, denn ich hatte ja schon ein paar Stunden Schwimmen und Laufen hinter mir und war schon 23 Stunden unterwegs“, erklärte Kai. „Und es waren eben 127 Kilometer. Mann, haben mir die Beine geschmerzt. Es war eine echte Tortur auf dem zweiten Marathon.“ Leon schüttelte immer wieder den Kopf. Seine Haare streiften Kais Wange und er wünschte sich so sehr, seine Finger darüber gleiten zu lassen. Du bist so erbärmlich, schimpfte er mit sich, zwang sich dazu, sich wieder den Fotos zuzuwenden und seine Phantasie zu zügeln.
Sie kamen zu den Bildern des Zieleinlaufs. Müde, angestrengte, glückliche Gesichter strahlten in die Kamera und ließen sich umarmen. Jubelnde Menschen begrüßten die Extremsportler.
„Wenn du reinkommst, ist es der Wahnsinn“, seufzte Kai. Seine Freunde waren ihm alle gemeinsam um den Hals gefallen, hatten ihn kurzerhand hoch gehoben und bejubelt. All das war die Strapazen wert gewesen. Dieser Moment höchsten Glücks, alles geschafft zu haben, sich selbst besiegt zu haben, den eigenen Körper abermals über seine Grenze hinaus getrieben zu haben. Ziel erreicht.
„Das da ist der beste Deutsche“, kommentierte Kai weiter. „Der ist am Ende Achter geworden. Auf der Laufstrecke war ich sogar beinahe so schnell wie der spätere Sieger, nur beim Schwimmen und Radfahren eben nicht, da muss ich nächstes Mal besser werden.“ Leons Augen blitzten ihn durch die Strähnen seines Haares hindurch an. „Du willst das allen Ernstes wirklich nochmal machen?“
„Aber klar“, gab Kai selbstsicher von sich. „Anfang August geht es wieder da hin. Diesmal werde ich der beste Deutsche sein, darauf kannst du jetzt schon wetten. Und vorher packe ich die Bestzeit auf der Challenge Roth.“
„Kerle“, meinte Angie achselzuckend abfällig und wollte das Album schon zuklappen.
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