Mecklenburger Winter
Handy hervor und starrte feindselig auf den Bildschirm, der ihm keine Anrufe und keine Nachrichten anzeigte. Abends auf dem Nachhauseweg, war er kurz versucht, bei Leon vorbeizufahren, um nachzusehen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder.
Peinlich, er war echt peinlich. Er würde sich zuhause eine leckere Pizza gönnen und den Abend vor dem Fernseher verbringen. Leon würde sich schon melden, wenn er es wollte.
Kurz bevor er in seine Straße einbog, fing es wieder zu schneien an. Fluchend, eilte Kai zum Haus, zog die Tür viel zu heftig zu und feuerte seine Jacke in die Ecke. Er hasste diesen Winter! Er hasste Eis, er hasste Schnee, er hasste Kälte und gerade jetzt hasste er auch die mecklenburgische Einsamkeit.
Nur zu gut konnte er sich an die ungläubigen Gesichter seiner Freunde in Hamburg erinnern, als er ihnen von seiner Idee, nach Mecklenburg umzusiedeln, erzählt hatte. Unverständnis war noch die harmloseste Reaktion gewesen. Die meisten hatten ihn, allerdings nicht zum ersten Mal, für komplett verrückt erklärt.
Während die Pizza im Ofen warm wurde, erinnerte Kai sich an seinen Physiotherapeuten. Dieser hatte ihn derart mitleidig angesehen, als ob Kai ins Exil in die Wüste Gobi gehen würde. Netter, muskelbepackter Typ war das gewesen. Nicht Kais Geschmack allerdings und wohl auch nicht schwul. So einen guten Physiotherapeuten hatte er noch nicht wieder gefunden.
Seufzend warf Kai sich auf sein Sofa und verzehrte die Pizza mit nur mäßigem Appetit. Nachdem er eine halbe Stunde irgendeine schwachsinnige Serie angesehen hatte, zog er sein Handy aus der Hosentasche und starrte auf das leere Display. Verflucht, er würde heute noch wahnsinnig werden, wenn er nicht erfuhr, was mit Leon war.
Rasch stand er auf, ging an seinen Schreibtisch hinüber und nahm die Visitenkarte „Reiterhof am Walde“ an sich. Minutenlang blickte er auf die Telefonnummer und Leons Namen, dann griff er entschlossen nach dem Telefon und rief bei ihm zuhause an. Es klingelte dreimal und in der Zeit schlug Kais Herz schon rekordverdächtige Purzelbäume. Er rang bei jedem Tuten mit sich, aufzulegen, aber dann knackte es doch in der Leistung und eine tiefe, männliche Stimme meldete sich nuschelnd mit: „Bei Lenkowski.“
Kai stutzte, denn die Stimme klang anders als die von Leons Vater und gänzlich anders als Leons. Vielleicht sein Bruder Bodo.
„Hallo“, meldete sich Kai verzögert. „Hier ist Kai. Äh … ist Leon vielleicht da?“ Es dauerte einen Moment. Offenbar musste sein Gesprächspartner erst überlegen, wer Kai war. Im Hintergrund vernahm man Stimmen und Musik.
„Leo? Leonard?“, antwortete sein Bruder langsam. Vermutlich tat er ihm Unrecht, aber in Kais Vorstellung war Bodo, wie sein Name: behäbig und höchst wahrscheinlich weitaus „männlicher“, zumindest nach den Kriterien von Vater Lenkowski. Um Kais Mund zuckte ein Lächeln, als er sich Bodo vorstellte, wie dieser sich fragend am Kopf kratzte.
„Der is oben“, antwortete Bodo und fügte erklärend hinzu: „Hole ihn ma' runter, das Telefon funktioniert nur hier unten.“ Kai atmete erleichtert aus. Scheinbar war mit Leon alles okay, er lag nicht im Krankenhaus, hatte einen Unfall, war entführt worden oder von einem der Pferde getreten worden; alles Szenarien, die Kai sich tagsüber hinreichend ausgemalt hatte. Gedämpft drangen Geräusche durch den Hörer, Stimmen, aber Kai verstand kein Wort. Eine Tür öffnete sich und die Stimmen wurden urplötzlich lauter.
„Ich sage ja nur, es hätte nicht notgetan, Burkhardt“, vernahm Kai die Stimme von Leons Mutter. „Der soll sich mal nicht so anstellen, er ist doch kein Mädchen. Heult aber wie eins.“ Eindeutig Burghardt.
„Es war ihm so wichtig. Natürlich ist er enttäuscht.“ Anneliese seufzte. „Blödsinn, nur Zeitverschwendung. Was soll das schon bringen?“, schnaubte Burghardt. „Warum lässt du ihn nicht mal mit seinen Freunden etwas unternehmen? So viele hat er nun auch wieder nicht. Gönn ihm doch ein bisschen Spaß. Er hilft dir so viel.“
Kai ballte die Faust. Sie sprachen eindeutig von Leon, dessen war er sich ganz sicher. Und Burghardt stieg weitere Stufen der Beliebtheitsskala nach unten ab.
„Du weißt genau, dass hier jede Hand gebraucht wird“, gab Burghardt scharf zurück. „Für unnützen Firlefanz haben wir kein Geld und keine Zeit.“ Anneliese antwortete etwas, was Kai nicht verstand, offenbar bewegten sie sich vom Telefon fort.
„Du behandelst ihn ...“,
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