Mecklenburger Winter
war er seinen Trieben machtlos ausgeliefert. Wenn er zurückkam, war Leon ganz bestimmt schon weg. Geflohen. Der Anblick eines derartig sabbernden, notgeilen Schwulen, hatte Leon gewiss den Rest gegeben. Toll hast du das hingekriegt, schimpfte Kai mit sich selbst, schrie seine Wut in den schneeverhüllten Himmel: „Verdammt nochmal! Ich bin doch auch nur ein Mann!“
Seine Muskeln schmerzten, jeder Atemzug brannte feurig, jeder Schritt war unendlich schwer, wurde schleppender. Sein Körper schrie nach Ruhe, seine Lunge nach Sauerstoff und sein, wie wild pumpendes Herz noch immer nach Leon.
Schritt für Schritt zwang Kai sich weiter, bis seine müden Beine nachgaben und er stolperte. Hastig fing er seinen Fall mit den Händen ab. Die Arme knickten ihm ein, konnten sein Gewicht nicht tragen und er fiel unsanft in den Schnee, rollte sich auf die Seite, um nicht mit dem Gesicht voran in der verhassten weißen Masse zu landen. Keuchend blieb er liegen, rang gierig nach Atem. Minutenlang lag er einfach nur da, eingebettet in den kalten, feuchten Schnee, während federleichte Schneeflocken seinen erhitzten Körper bedeckten, trügerisch zart und streichelnd. Die Hitze seines Körper vernichtete ihre kristalline Struktur, kaum berührten sie Kais blanke Haut, hinterließen nichts als Feuchtigkeit und zunehmende Kälte.
Warum ausgerechnet Leon? Jede andere Herausforderung seines Körpers, der Ausdauer, seines Kampfwillens hätte Kai nur zu gerne angenommen. Nur wie zum Teufel, sollte er einen solchen Wettkampf gewinnen? Der Weg ist das Ziel. Nur wo war hier der Weg und wie unfair war es denn, das Ziel gänzlich unerreichbar zu machen?
Nur langsam beruhigte sich Kais Atem, kam sein Herz mit seiner Arbeit nach. Noch immer fühlten sich seine Beine viel zu taub und schwer an, doch sein gut trainierter Körper wusste genau, was er zu tun hatte, wie er aus dem überschüssigen Laktat Energie gewinnen und sich regenerieren konnte. Darin hatte er genügend Übung.
Wenn nur alles so einfach wäre, wie ein Ultra. Natürlich gab es da auch diese schweren Phasen, Momente, in denen der Körper einfach nicht mehr mitspielen wollte, in denen Kai schier verzweifelte und er sich die Frage stellen musste, wie zur Hölle er die vor ihm liegende Strecke noch schaffen sollte, wenn er jetzt schon Probleme hatte. Dennoch wusste er genau, dass er dann einfach weitermachte, Schritt für Schritt, nur auf jeden einzelnen davon konzentriert. Nie an den ganzen Rest denken, nur noch einen Schritt und noch einen, immer weiter. Und dann ging es irgendwann wieder, er überwand den Tiefpunkt, alles klappte und er erreichte das Ziel. Ausdauer, Durchhaltewillen, den unbedingten Willen zu siegen. Kai hatte von allem reichlich. Wenigstens war er damit ein guter Ausdauersportler.
Erst als die Kälte klamm und kalt unter seine Laufjacke kroch, richtete er sich auf. Keine gute Idee, hier im Schnee sterbender, verliebter Schwan zu spielen, dachte er selbstironisch. Es gibt bestimmt effektivere Methoden gegen Liebeskummer, als einen langsamen Kältetod. Die Kälte betäubte ihn, machte ihn gefühllos. Hatte er sich bei dem Sturz eigentlich verletzt? Vorsichtig untersuchte Kai seinen tauben Körper, fand jedoch keine Verletzung. Glück gehabt, der Schnee hatte ihn weich aufgefangen. Alles funktionierte wie gehabt. Erleichtert atmete er aus. Wenn er sich verletzt hätte, wäre womöglich die ganze Saison gelaufen. Das war selbst ein schnuckeliger Leon nicht wert.
Langsam ging Kai los, bis er sich besser fühlte und warm war, dann lief er weiter, beendete den Rest seiner Runde ruhiger und versuchte entschlossen jeden Gedanken an Leon auszuschließen. Seiner Gesundheit war Leon eher abträglich. Er würde eh gleich weg sein und vielleicht war es auch ganz gut so.
Kai blickte in den weißgrauen Himmel hoch. In dichten Flocken fiel der Schnee noch immer auf ihn herab. Sein warmer Atem schaffte vergängliche Dampfwolken in der kalten Luft. Leon würde gewiss schon auf dem Weg nachhause sein. Bei dieser Kälte, in dem dichten Schneetreiben, in seiner viel zu dünnen Hose, zu Fuß, ganz alleine ...
Unwillkürlich lief Kai schneller. Wenn er sich beeilte, traf er ihn vielleicht noch an, konnte sich entschuldigen und ihm wenigstens anbieten, ihn zu fahren. Wenn Leon wieder zu Fuß ging, fror er sich doch sonst was ab.
In seiner Auffahrt stoppte Kai überrascht ab. Der Schnee fiel sehr dicht, bedeckte rasch alles mit einer weißen Decke. Wie Kais Fußspuren, die nur
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