Meconomy
Persönlichkeitsentwicklung, weiß die Entwicklungspsychologin Ursula Staudinger, die an der International University Bremen das Jacobs Center for Lifelong Learning and Institutional Development leitet: „Wenn man sich ändern will, geht das einfacher im neuen Kontext.“ Wie sich die neue globale Mobilität auf die Neuerfindung unseres Selbst auswirken kann, sehen wir im fünften Kapitel, „Wo will ich leben?“.
„Wir müssen uns entwickeln lernen, wie wir schreiben und lesen lernen“, so Staudinger. „Dabei geht es um die Frage: Unter welchen Bedingungen ist persönliches Wachstum möglich?“ Die Psychologin findet, dass Wissenschaftler dem modernen Menschen bei diesem Prozess der Selbstentwicklung deutlich mehr helfen sollten. Statt immer nur Kranken zu helfen, sollten ihre Kollegen in Zukunft prophylaktisch tätig sein und vom Therapeuten zum Trainer werden: „Lebensmanagement gehört in den Grundlehrplan.“
Authentizität und Fremdwahrnehmung
Wenn wir schon unsere Persönlichkeit selbst formen, was ist dann mit den scheinbaren Äußerlichkeiten, die uns ja in den Augen der anderen vor allem definieren? Welche Musik man hört, wie man sich frisiert und kleidet, welchen Beruf man ergreift, wo man seinen Wohnort wählt und, ganz allgemein, wie man seine Rolle im Leben definiert – all das macht unsere soziale Identität aus, und die wird zunehmend zum volatilen Konstrukt. Gerade in Mitteleuropa, so Siefer und Weber, finde seit einigen Jahren ein dramatischer Wandel bei der Identitätsbildung statt. Wo früher Familie, Tradition, Nation und Religion das Dasein bestimmten, setzt sich heute jeder sein eigenes Leben aus nahezu unendlichen Möglichkeiten zusammen – wie aus einem Baukasten. Ist das eigentlich gut oder schlecht? Je nachdem. Während Modernisierungstheoretiker anfingen, „über neue Freiheiten zu frohlocken“, wehklagten andere über neue Ansprüche.
Der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp gehört zu den Bedenkenträgern: „Es klingt natürlich für Subjekte verheißungsvoll, wenn ihnen vermittelt wird, dass sie ihre Drehbücher selbst schreiben dürfen“, sagt er. Aber die erforderlichen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen seien oft nicht vorhanden, „und dann wird die gesellschaftliche Notwendigkeit und Norm der Selbstgestaltung zu einer schwer erträglichen Aufgabe“.
In dieselbe Kerbe schlägt auch der französische Soziologe Alain Ehrenberg in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“: „Das Individuum heute fragt eher, was zu tun möglich ist, als was zu tun erlaubt ist.“ Das Perfide daran sei, dass theoretisch immer noch ein Schritt mehr möglich wäre, und doch jeder wisse, dass er niemals alle Alternativen wird ausschöpfen können. „Der Mensch ist den Freiheiten, die er sich über Jahrhunderte mühsam erkämpft hat, nicht mehr gewachsen“, schlussfolgert die Süddeutsche Zeitung , „und dieses Gefühl der Unzulänglichkeit lässt manche Forscher inzwischen von einer depressiven Gesellschaft sprechen.“
Dabei setzt sich hier nur ein Prozess fort, der in der Renaissance seinen Anfang nahm, in der Aufklärung zur Blüte kam, in der Moderne kritisiert wurde und heute als Fakt akzeptiert ist: die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft.
Kurze Kulturgeschichte der Individualisierung
Vermutlich begann das Ich erstmals ernsthaft in der Renaissance sich vom Wir zu emanzipieren. Künstler und Wissenschaftler entdeckten das eigene Schicksal als Sujet. „Der Selbstbezug wird zu einem ausdrücklichen Charakterzug vor allem der aufsteigenden Humanisten und Gelehrten“, so der Mentalitätshistoriker Richard van Dülmen. Nachdem die Beziehung zu Gott im Protestantismus personalisiert wurde und mit dem Buchdruck Bildung für jedermann verfügbar war, erreichte im 18. Jahrhundert die Selbstreflexion in Form von publizierten Autobiografien, Tagebüchern und Briefwechseln einen Höhepunkt.
Romane erzählten erstmals die Geschichte einfacher Leute – innerhalb einer immer noch ständisch organisierten Gesellschaft eine Unerhörtheit. Goethe ließ seinen Werther leiden, und Tausende von Lesern erkannten sich in dessen Liebesverstrickungen derart intensiv wieder, dass manche von ihnen aus reiner Identifikation – ebenso wie die Romanfigur – den Freitod wählten. Das Konzept der romantischen Liebe entwickelt sich. In Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ schafft das Individuum jenseits von Religion, Staat und Familie gar eine neue Welt – und bewährt
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